Die Mehrheit der Europäer kann aufatmen - vorläufig

Die Mehrheit der Europäer kann aufatmen - vorläufig
Der Botschafter Frank Elbe blickt auf eine lange Karriere als Diplomat zurück: Von Polen bis in die Schweiz war er in zahlreichen Ländern stationiert. Gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher war er an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Deutsche Einheit beteiligt.
Die Mehrheit der Europäer kann aufatmen. In Frankreich haben die Wähler Marine Le Pen und ihre Anti-EU-Partei abgestraft – wie zuvor in den Niederlanden und bei der Präsidentenwahl in Österreich. Mehr als eine Verschnaufpause für Europa schafft das aber nicht. 
 
von Frank Elbe

Die Fortentwicklung des großen Friedenswerks ist noch keineswegs in trockenen Tüchern. Europa braucht Nüchternheit, Augenmaß und den Mut, die Chancen und Risiken seiner weiteren Entwicklung richtig einzuschätzen. Es verträgt weder Missmut noch Euphorie.

Der Botschafter Frank Elbe blickt auf eine lange Karriere als Diplomat zurück: Von Polen bis in die Schweiz war er in zahlreichen Ländern stationiert. Gemeinsam mit  Hans-Dietrich Genscher war er an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Deutsche Einheit beteiligt.

Zunächst gilt, dass Europa ein großer Erfolg ist. Es hat innerhalb der Europäischen Union seit über 70 Jahren keinen Krieg mehr gegeben. Man muss in der europäischen Geschichte um mehr als 800 Jahre zurückgehen, um eine so lange Friedensperiode zu finden. Sie ist die Grundlage für die Sicherung von Frieden, Freiheit, Wachstum und Wohlstand in Europa.

Alles in allem hat sich die Europäische Union in einen wirtschaftlichen Giganten verwandelt. In der EU leben 508 Millionen Menschen. Wir leben auf einem Kontinent mit höchster Innovationsfähigkeit. Die EU führte zu einem höheren Lebensstandard, einem einheitlichen Binnenmarkt, einer Gemeinschaftswährung und zu einem einheitlicheren Auftreten der Union in der Welt.

Katastrophen der Vergangenheit zwingen uns zu mehr Europa
Viele Menschen nehmen die historischen Verdienste der EU gar nicht mehr wahr, weil der Erfolg so selbstverständlich geworden ist. Kürzlich fragte der Moderator einer Podiumsdiskussion: "Glauben Sie denn wirklich, dass 70 Jahre Frieden bei einem Jugendlichen noch Begeisterung für Europa auslösen?"

Offensichtlich versickert die Erinnerung an die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts allmählich. Erfahrungen aus der Geschichte, die 60 bis 80 Jahre zurückliegen, scheinen für nachfolgende Generationen kaum noch erheblich zu sein. Damit zerbröseln auch Fähigkeit und Bereitschaft, Lehren aus dem Schrecklichen zu ziehen.

Deutschland hat das Glück gehabt, dass viele bedeutende Politiker ihre dramatischen Erfahrungen mit der Sinnlosigkeit eines verbrecherischen Krieges in die Fundamente des neuen Europas eingebracht haben. Helmut Schmidt hatte für den 2. Weltkrieg nur ein Wort übrig: "Scheißkrieg!"

Eine Person notiert Gedanken auf einem Whiteboard der Pro-EU-Gruppe

Auch ausländische Partner stützten sich auf ihre Erinnerungen. Der französische Außenminister Roland Dumas lernte nach dem Krieg Deutsch, um die Nation verstehen zu wollen, deren Soldaten seinen Vater in Limoges als Geisel erschossen hatten. Aus vorsichtigen Annäherungsversuchen entwickelte sich eine große Freundschaft zu den Deutschen. Diese Generation von Politikern ist nun abgetreten.

"Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen!" – schrieb der Philosoph George Santayana. Nachfolgende Generationen tun gut daran, die Erinnerung an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu bewahren, um nicht dem Schlafwandel zu erliegen, der Europa in den Ersten Weltkrieg taumeln ließ. Mich lässt ein fiktiver Dialog erschaudern. Ein Enkel fragt seinen Großvater: "Was hast Du in den Schicksalsjahren 2016-2017 gemacht, als Europa auseinanderzubrechen drohte?" Antwort des Großvaters: "Wir sind auf die Straße gegangen, um kleine lustige Monster zu fangen!"

Gigantische Herausforderungen auf globaler Ebene
Europa ist keine Insel. Der Kontinent wird auch von Erschütterungen außerhalb der EU bedroht. Unsere Welt ist inzwischen ein Nebeneinander von tektonischen Platten: die USA, Europa, Russland, China und Afrika. Wenn sie im Kampf um macht- und wirtschaftspolitische Interessen aneinanderstoßen, lösen sie Beben aus:

Der Botschafter Frank Elbe blickt auf eine lange Karriere als Diplomat zurück: Von Polen bis in die Schweiz war er in zahlreichen Ländern stationiert. Gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher war er an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Deutsche Einheit beteiligt.
  • Die Ukrainekrise führt mehr und mehr in eine klassische Auseinandersetzung zwischen zwei Großmächten - zwei nuklearen Giganten –, die ihre Einflusszonen ausdehnen bzw. behaupten wollen. 
  • China erhebt absurde Rechtsansprüche auf kleine Inseln im westlichen Pazifik, um seine Hoheits- und Wirtschaftszonen in der Region auszudehnen.
  • Afrika bedroht Europa nicht durch seine Machtansprüche, sondern durch sein Elend. Eine Walze verzweifelter Menschen schiebt sich unaufhaltsam in Richtung Europa. 
  • Der islamistische Terrorismus ist ein Sonderfall politischer Tektonik. Er definiert sich weder über ein Staatsgebiet noch über ein Staatsvolk oder eine Staatsgewalt. Wie ein riesiges Netz spannt er seine gewalttätige Ideologie und sein Regime des Schreckens über den Globus. Er schlägt brutal zu - anonym, unerwartet und überall. Wir sind unvorbereitet und offenbar hilflos. 
Auch diesen Herausforderungen müssen wir Europäer uns stellen. Die EU ist aber nur ein kleiner Lappen auf dem Globus, Deutschland ist gerade mal ein Flecken, andere EU-Staaten haben die Größe eines Stecknadelkopfes, wenn sie überhaupt auszumachen sind. Jeder der 28 Staaten der EU ist zu klein, um überleben zu können. Die EU ist aber eben mehr als die Summe der 28 bzw. künftig 27 Staaten.

Wenn wir keinen Mut haben, die EU mit durchgreifenden Reformen zu stärken, wird Europa bedeutungslos werden. Auf Dauer werden wir im Wettbewerb mit den USA, China und Russland und anderen Staaten der G20 nicht bestehen. Die Bereitschaft, die politische Funktionsfähigkeit Europas zu steigern, wird über seinen Stellenwert in der Welt entscheiden. Die Neigung, Nationalstaatlichkeit überhaupt nicht aufgeben zu wollen – noch nicht einmal partiell -, ist ein nicht mehr vertretbarer Anachronismus.

Im Zeitalter der Globalisierung verändern sich die Maßstäbe. Eine bundesstaatliche Ordnung oder auch nur eine zentrale Lenkung verschafft unseren Partnern knallharte Vorteile im globalen Wettbewerb. Wir müssen die Europäische Union selbst zu einem schlagkräftigen und handlungsfähigen politischen Partner machen.

Jasmin Kosubek im Gespräch mit Frank Elbe.

Wir brauchen mehr bundesstaatliche Strukturen, keine Institution aus Beamten und Funktionären, sondern eine dem europäischen Parlament verantwortliche Regierung, die für die Mitgliedstaaten die wichtigen Bereiche der Außen-, Finanz-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik festlegt. Das Ziel eines - zumindest partiellen - europäischen Bundesstaates darf kein unendlich weit entferntes bleiben.

Keine Zukunft ohne intaktes Verhältnis zu USA und Russland
Europa ist keine Insel in der Welt – es ist vom Miteinander mit anderen Staaten und Regionen abhängig. Europa und die USA sind verflochten und verbunden. Unsere Beziehungen sind und bleiben die mit großem Abstand wichtigsten zwischen zwei Kontinenten in der Geschichte der Menschheit. Die USA und die EU sind die wirtschaftlich am stärksten miteinander verflochtenen Regionen weltweit. Europa braucht eine starke Partnerschaft mit den USA.Aber unsere Zusammenarbeit verlangt eine Partnerschaft auf Augenhöhe und Fairness im Umgang.

Auch Russland ist Teil unserer europäischen Heimat. Wir sind durch Geschichte, Kultur und Handel seit Jahrhunderten verbunden. Nun haben wir seit zweieinhalb Jahren eine Krise mit Russland. Droht sie, eine über mehrere Jahrzehnte reichende Aufbauarbeit zu zerstören? Eigentlich müssten die Anstrengungen auf Hochtouren laufen, die prekäre Lage in der Ukraine zu befrieden und das Verhältnis zu Russland wieder zu ordnen.

Aber die Politik dümpelt in dieser Krise immer mehr vor sich hin. Der Streit um Glyphosat mobilisiert mehr politische Leidenschaften als die Sorge um Krieg und Frieden. Wir sollten daran arbeiten, dass Russland seinen Platz in der euroatlantischen Gemeinschaft bald wieder einnehmen kann. Es wird für Europa und die USA keine Sicherheit gegen Russland, sondern nur mit Russland geben.

Wir dürfen die weitere Entwicklung Europas nicht einer agitatorischen, europafeindlichen Minderheit überlassen. Die Weimarer Republik ist an ihrer Werteneutralität, an ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den radikalen, die Werteordnung der Verfassung zersetzenden Umtrieben zu Grunde gegangen. Wir werden das nicht noch einmal zulassen. Wir wollen ein modernes, aufstrebendes Europa, das der Jugend eine Gasse weist und unseren Kindern und Kindeskindern mehr hinterlässt als nur die Verwaltung der Folgen einer verfehlten Politik.

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