Einige Gedanken zur Sorge



Dieser Mangel, sich Wünsche versagen zu müssen, hat die gleichen Folgen wie das Fehlen einer offenen Autorität - es führt zur Lähmung und schliesslich zur Zerstörung des Selbst. Wenn ich die Erfüllung  meiner Wünsche nicht hinausschiebe (und ich bin darauf konditioniert, mir nur das zu wünschen, was ich bekommen kann), dann habe ich keine Konflikte, keine Zweifel, ich brauche keinen Entschluss zu fassen, ich bin nie mit mir selbst allein, weil ich immer beschäftigt bin - mit meiner Arbeit oder mit meinem Vergnügen. Ich brauche mir nicht als meiner selbst bewusst zu werden, weil ich immerzu mit meinem Vergnügen beschäftigt bin. Ich bin - ein System von Wünschen und deren Befriedigung; ich muss allerdings arbeiten, um mir meine Wünsche erfüllen zu können - und eben diese Wünsche werden von der Wirtschaft ständig stimuliert und gelenkt. Die meisten dieser Begierden sind künstlich erzeugt, selbst die sexuelle Begierde ist bei weitem nicht so „natürlich“, wie man behauptet. Sie ist zum Teil künstlich stimuliert. Und das kann auch gar nicht anders sein, wenn wir Menschen haben wollen, wie sie das gegenwärtige System braucht - Menschen, die sich „glücklich“ fühlen, die keine Zweifel kennen, die keine Konflikte haben und die sich ohne Anwendung von Gewalt lenken lassen.

Seinen Spass zu haben besteht für viele hauptsächlich in der Befriedigung, zu konsumieren und sich etwas einzuverleiben. Gebrauchsgüter, Landschaften, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Vorlesungen, Bücher, Filme - alles wird konsumiert, verschlungen. Die Welt ist ein einziges grosses Objekt für unseren Appetit, ein Riesenapfel, eine Riesenflasche, eine Riesenbrust. Wir sind die ewig wartenden, ewig hoffenden - und ewig enttäuschten Säuglinge. Wie könnten wir auch nicht enttäuscht sein, wenn unsere Geburt bei der Mutterbrust bereits endet, wenn wir doch nie entwöhnt werden und immer über ihr Alter hinausgewachsene Babys bleiben, wenn wir über die rezeptive Orientierung niemals hinauskommen?

So machen sich viele Menschen Sorgen, fühlen sich minderwertig, unzulänglich und schuldbewusst. Sie fühlen, dass sie leben ohne richtig zu leben, dass das Leben ihnen wie Sand durch die Finger rinnt. Wie werden solche Menschen mit ihren Beschwerden fertig, die von ihrer passiven Haltung stammen, sich immer nur Dinge einzuverleiben? Es gelingt ihnen mit Hilfe einer anderen Form der Passivität, mit einem ständigen Überlaufen sozusagen, indem sie reden.

Sich nicht vorwärts zu bewegen, zu bleiben, wo man ist, zu regredieren, kurz, sich auf das zu verlassen, was man hat, ist eine sehr grosse Versuchung, denn was man hat, kennt man; man fühlt sich darin sicher, man kann sich daran festhalten. Wir haben Angst vor dem Schritt ins Ungewissen, ins Unsichere, und vermeiden ihn deshalb; denn obgleich der Schritt nicht gefährlich erscheinen mag, nachdem man ihn getan hat, so scheint doch vorher, was sich daraus ergibt, riskant und daher angsterregend zu sein. Nur das Alte, Erprobte ist sicher, oder wenigstens scheint es das zu sein. Jeder neue Schritt birgt die Gefahr des Scheiterns, und das ist einer der Gründe, weshalb der Mensch die Freiheit fürchtet.

Die Vorsichtigen, die Besitzenden wiegen sich in Sicherheit, doch notwendigerweise sind sie alles andere als sicher. Sie sind abhängig von ihrem Besitz, ihrem Geld, ihrem Prestige, ihrem Ego - das heisst von etwas was sich ausserhalb ihrer selbst befindet. Aber was wird aus ihnen, wenn sie verlieren, was sie haben? Und in der Tat gibt es nichts, was man haben und nicht auch verlieren kann. Am offenkundigsten natürlich Besitz, und damit gewöhnlich auch Stellung und Freunde - und man kann jeden Augenblick sein Leben verlieren, irgendwann verliert jeder es unausbleiblich.

Erich Fromm sagt: „Wer bin ich, wenn ich bin, was ich habe, und dann verliere, was ich habe? Nichts als ein besiegter, gebrochener, erbarmenswerter Mensch, Zeugnis einer falschen Lebensweise. Weil ich verlieren kann, was ich habe, mache ich mir natürlich ständig Sorgen, dass ich verlieren werde, was ich habe. Ich fürchte mich vor Dieben, vor wirtschaftlichen Veränderungen, vor Revolutionen, vor Krankheit, vor dem Tod, und ich habe Angst zu lieben, Angst vor der Freiheit, vor dem Wachsen, vor der Veränderung, vor dem Unbekannten. So lebe ich in ständiger Sorge und leide an chronischer Hypochondrie, nicht nur in bezug auf Krankheiten, sondern hinsichtlich jeglichen Verlusts, der mich treffen könnte; ich werde defensiv, hart, misstrauisch, einsam, von dem Bedürfnis getrieben, mehr zu haben.“


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