„Lügenpresse“ in Deutschland: Meinungsspektrum auf Schießschartengröße verengt

Der alte Begriff „Lügenpresse“ ist nach Ansicht von Markus Gärtner, dessen Buch mit diesem Titel jetzt erschienen ist, heute aktueller denn je. Im deutschen Journalismus werde der Meinungsspektrum bei vielen Themen immer enger.

In manchen Fällen habe es sich „auf die Schießschartengröße verengt“, wie dies der „Handelsblatt“-Chefredakteur Gabor Steingart formulierte.
Dies gelte etwa in vollem Maße für die Berichterstattung über die russischen Militäreinsätze in Syrien und über die Situation in der Ukraine.

Im Ukraine-Konflikt sei Putin der Böse, die Amerikaner seien die Guten, äußerte er im Sputniknews-Interview mit Nikolaj Jolkin. „Bei dem großen Flüchtlingsstrom, der nach Deutschland reinkommt, muss man dafür sein und sich freuen, dass wir so viel Migranten und Asylbewerber haben. Und wer Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung übt, der ist ein Rechtspopulist oder ein Spinner. Nach diesen Beißreflexen wird sehr oft im Journalismus verfahren. Man teilt die Welt in Weiß und Schwarz ein und schildert viele Dinge simpel.“

Der Experte bedauert, dass man oft nur die vorherrschende Geschichte erzählt.  Und wer die in Frage stelle oder kritisiere, der habe ein großes Problem. „Wenn Sie z.B. in Deutschland versuchen, mit Blick auf die Ukraine oder auf Russland Verständnis selbst ein bisschen für die Position von Putin zu finden, dann sind Sie natürlich gleich als Putin-Versteher verdammt, d.h. als jemand, der überzogene Sympathie für jemanden hat, der sie eigentlich nicht verdient. Man versucht mit der gefilterten Berichterstattung und solchen Kampfbegriffen daran zu arbeiten und das herrschende Bild der Nachrichtengebung aufrecht zu erhalten.“

Solche Berichte, die über zivile Opfer in Syrien noch vor Beginn der russischen Luftangriffe erschienen sind, nennt Markus Gärtner in seinem Buch „inszenierte Realitäten“. Als Beispiel führt er die Flüchtlingskrise in Deutschland an. „Es ist wenig umstritten, dass 80 bis 90 Prozent derjenigen Migranten, Asylbewerber und Wirtschaftsflüchtlinge, die nach Deutschland kommen, überwiegend junge Männer sind. Aber wenn Sie abends in Deutschland Fernsehen schauen, dann haben Sie den Eindruck, dass es Familien mit kleinen Kindern sind, weil dann immer wieder die Bilder von kleinen süßen syrischen Kindern mit coolen Augen gezeigt werden. So versucht man Nachrichten zu manipulieren.“

Es habe vor ein paar Tagen im ZDF heute journal ein Video gegeben, fährt der Experte fort, das einen angeblich russischen Angriff in einem syrischen Dorf als Beweis gezeigt habe. „Später stellte sich heraus — es wurde alles im Internet nach und nach aufgedeckt —, dass dieses Video verdächtig geschnitten war, damit die Nachrichten in das vorherrschende Bild passen.“

Der Begriff „Lügenpresse“ sei so alt wie die Presse selbst, meint Markus Gärtner, zumindest wie die Zeitungen im heutigen Sinne, wo sie ein Massenpublikum hätten. „Die Nazis haben im Dritten Reich diesen Begriff verwendet, als sie die SPD-Presse angegriffen haben. Aber auch der Widerstand gegen die Nazis hat diesen Begriff gegen die Propaganda von Goebbels verwendet, auch in den 60er Jahren, als die 68er gegen die Springerpresse demonstriert haben.“

Dieser alte Kampfbegriff bekomme jetzt eine Aktualität, ist sich der Experte sicher. „Auch die Massenmedien selbst beginnen sich gegenseitig der,Lügenpresse‘ zu bezichtigen. Die Gerichtsreporterin des Spiegels hat das neuerlich gegen die Bild-Zeitung gemacht, und in der vergangenen Woche hat man das bei der TAZ in Berlin gesehen, die es gegenüber dem Spiegel gemacht hat.“

Markus Gärtner hat in seinem Buch, das den Untertitel „Wie uns die Massenmedien durch Fälschen, Verdrehen und Verschweigen manipulieren“ trägt, 471 Fälle zusammengetragen. Am vorletzten Wochenende, sagt er, habe es in Berlin 250 000 Demonstranten gegen die TTIP gegeben. „Es waren viele linke Gruppierungen, SPD, Grüne, Globalisierungsgegner und Gewerkschaften. Und trotzdem hat der Spiegel in seiner Online-Ausgabe an diesem Tag nur von dem rechten Schauermärchen gesprochen: Diese Anti-TTIP-Bewegung sei auf dem braunen Mist gewachsen. So wurden die Antreiber und Teilnehmer dieser Demonstration falsch dargestellt.“

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Die Neigung der Journalisten, ein Thema ganz groß aufzublasen und in der Nachrichtengebung zu erschöpfen und dann wieder fallen zu lassen, nennt Markus Gärtner den Alzheimer-Journalismus und die Sau-durchs-Dorf-Mentalität. „Jetzt haben wir viele Berichte über den Flüchtlingsstrom, und das Thema Griechenland-Krise und seine Schulden sind völlig herausgefallen. Solche Dinge verschwinden plötzlich.“ Er erklärt es damit, dass es seit dem vergangenen Jahrzehnt wegen der Sparpolitik, weil die Werbung weggebrochen sei, einen ganzen Generationswechsel im Journalismus gegeben habe. Jetzt habe man eine junge Generation. Erfahrene Leute seien im großen Umfang gegangen. Der Experte nennt das eine Art kollektiven Gedächtnisverlust.

„Wir haben im Moment so etwas wie einen Zusammenbruch und die Auflösung des traditionellen Nachrichten-Universums. Da standen die Journalisten an der Schleuse, haben den Nachrichten-Strom gefiltert und entschieden, was bei dem Publikum ankommt. Jetzt ist dieses alte Universum am Verfallen, und wir haben die Entstehung eines neuen Universums, wo jeder durch seinen Blog ein Journalist werden kann, wenn er ein Video aufnimmt und bei YouTube veröffentlicht. Alle kommunizieren praktisch miteinander auf Augenhöhe. Es entsteht im Internet eine neue große Gegenöffentlichkeit, eine Hoffnung für faire und objektive Berichterstattung, wenn man sich als Leser die Quellen in Ruhe und vernünftig aussuchen kann.“

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