Vor dem islamischen Bruderkrieg – Saudi-Arabien gegen Iran heißt: Sunniten gegen Schiiten

Peter Orzechowski

Gefährliche Eskalation in der gefährlichsten Region der Welt: Da wird in Riad, der Hauptstadt Saudi-Arabiens, Scheich Nimr al-Nimr, der geistliche Führer der schiitischen Minderheit in Saudi-Arabien und der einzige saudische Ajatollah, hingerichtet. In Teheran, der Hauptstadt Irans, stürmen iranische Radikale die saudische Botschaft und stecken sie in Brand. Riad bricht die diplomatischen Beziehungen zum Iran ab. Gibt es Krieg zwischen der Führungsmacht der Sunniten, Saudi-Arabien, und der Führungsmacht der Schiiten, Iran?



Seit Monaten liefern sich beide um die Vormacht ringenden Regionalmächte in Jemen, Irak und vor allem Syrien brandheiße Stellvertreterkriege. Kippen nun diese Stellvertreterkriege in die direkte Konfrontation zwischen der sunnitischen und der schiitischen Vormacht?

»Beide Länder werden alles tun, um ihre Stellvertreter und deren Aktivitäten zu stärken, was nur noch mehr Konflikt bringen wird«, zitiert die New York Times einen amerikanischen Regionalexperten. »Das ist eine beunruhigende Eskalation«, bestätigt der Londoner Nahostspezialist Michael Stephens vom Royal United Services Institute (RUSI). »Sie hat enorme Konsequenzen für die Menschen der Region, und die Spannungen zwischen den beiden Seiten bedeuten, dass sich die Instabilität in der ganzen Region fortsetzen wird.«

Die Eskalation zwischen Riad und Teheran hat prompt die Wut zwischen Sunniten und Schiiten angeheizt: Angriffe auf sunnitische Moscheen in Irak, schrille Töne von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im Libanon, Beifall für Saudi-Arabiens Bruch mit Iran von sunnitischen Jaish-al-Islam-Rebellen in Syrien.

Als 2012 der sogenannte Arabische Frühling von Bahrein in die weit überwiegend schiitisch bevölkerte saudische Ostprovinz überschwappte, hatte sich al-Nimr an die Spitze der Bewegung gesetzt, Gleichberechtigung für Saudi-Arabiens Schiiten gefordert und das Regime in Riad scharf kritisiert. Früher einmal hat er dem radikal-islamischen Āyatollāh Khomeini nahegestanden – aber angeblich nie zur Gewalt aufgerufen.

Dass al-Nimr nun zusammen mit den Al-Qaida-Terroristen hingerichtet wurde, enthält auch eine Botschaft: Schiitisches Verlangen nach Gleichberechtigung gilt Riad als Terror, schiitische Dissidenten gelten als Agenten Teherans. Dialog und Verständigung sind ausgeschlossen.

Saudi-Arabiens Ängste

Riads neue aggressive Linie fällt zusammen mit der gerade ein Jahr alten Regentschaft von König Salman und seines unerfahrenen Sohnes und stellvertretenden Kronprinzen, der die Rollen des Verteidigungs- und Wirtschaftsministers ausfüllt: Im vergangenen Jahr wurden in Saudi-Arabien mindestens 157 Personen hingerichtet, meist mit dem Schwert und öffentlich, so viele wie noch nie seit 20 Jahren. Kein Zufall: Regime und wahhabitisches Establishment in Riad fürchten, dass die von ihnen unterstützte Terrorgruppe IS sich gegen sie wenden könnte.

Die Ideologie des Islamischen Staats unterscheidet sich »in vieler Hinsicht nicht vom saudischen Wahhabismus«, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Die vielen Hinrichtungen seien »vielleicht ein Versuch, konservativen Saudis zu beweisen, dass das Königreich ein echterer islamischer Staat ist als jeder andere«, beobachtete die Londoner Wochenzeitung The Economist schon vor über einem Jahr. Mit der Hinrichtung al-Nimrs wollten die Saudis nun demonstrieren, dass sie den Kampf gegen die Schiiten mindestens so ernst nehmen wie der Islamische Staat und sogar in die Offensive gehen, gibt die Washington Post einen Mittelostexperten wieder.

Ausgerechnet in der mehrheitlich schiitischen Ostprovinz lagern Saudi-Arabiens größte Ölvorkommen. Aber auch unter den Sunniten im Lande wächst Kritik: Weil Riad selbst den Ölpreis hat in den Keller fallen lassen, muss es nun Subventionen streichen, Benzin- und Energiepreise erhöhen, den großzügigen Sozialstaat umbauen und das Ölkönigtum aus der Abhängigkeit vom Öl lösen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt, über viereinhalb Millionen junge Saudis drängen in den nächsten Jahren in den Arbeitsmarkt – für den ihnen im Grunde Ausbildung und Fähigkeiten fehlen, berichtet die Londoner Tageszeitung Financial Times. Ein sehr ähnlicher Problem-Cocktail hat anderswo in der Region zu den Aufständen des sogenannten Arabischen Frühlings geführt.

Wenn die Saudis gegen den Iran mobilisieren, solange sie das noch können, dann wird insgesamt der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten verschärft, zu Hause und in der ganzen Region. Für die Kriege in Jemen, Syrien und Irak verheißt das nichts Gutes. Und jeder dieser Kriege kann schnell zu einer direkten Konfrontation zwischen Saudi-Arabien und Iran führen.

Sunniten gegen Schiiten – das explosive Schisma

Die Spaltung der muslimischen Gemeinschaft in Sunniten und Schiiten ist in erster Linie die Folge des politischen Streits um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten Mohammed nach dessen Tod im Jahr 632.

Die Bezeichnung »Sunnit« ist vom arabischen Wort »Sunna« abgeleitet, den überlieferten Handlungsweisen des Propheten Mohammed. Die Sunniten bilden die Mehrheit der heute weltweit 1,5 Milliarden Muslime (ca. 85 Prozent). Die in Saudi-Arabien vorherrschende ultrakonservative Strömung des Wahhabismus stellt eine Minderheit innerhalb des sunnitischen Islam dar und ist stark antischiitisch ausgerichtet.

Die Bezeichnung »Schiiten« leitet sich dagegen von shīʻat ʻAlī ab, einem Ausdruck, der auf Arabisch »Partei/Gefolgschaft Alis« bedeutet. Die Schiiten repräsentieren mit zehn bis 15 Prozent die zweitgrößte muslimische Strömung.

In Iran, Irak, Bahrain und Aserbaidschan stellen Schiiten die Bevölkerungsmehrheit. Spannungen und Unruhen gibt es bereits seit Jahren in den Ländern, in denen bedeutende schiitische Minderheiten existieren: im Libanon zum Beispiel, wo Sunniten und Schiiten jeweils knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachen; im Kriegsland Jemen, das etwa 65 Prozent Sunniten und 35 Prozent Schiiten zählt; in Afghanistan, wo vier Fünftel sunnitisch sind und ein Fünftel schiitisch ist; auch in Pakistan, wo sich ein Viertel der Bürger zur schiitischen Glaubensrichtung bekennt; und in Saudi-Arabien, in dem zehn bis 15 Prozent Schiiten leben. Von dort aus könnte sich auch eine schiitische Erhebung auf die Golfstaaten Kuwait und Oman ausweiten, deren Bevölkerung immerhin jeweils zu knapp einem Drittel schiitisch ist.

Vertreten die Sunniten die Ansicht, dass die religiöse und politische Führung der muslimischen Gemeinschaft dem Fähigsten unter den Muslimen zusteht, lehnen die Schiiten eine solche Regelung ab. Sie glauben stattdessen, dass Mohammed zu seinen Lebzeiten seinen Cousin und Schwiegersohn Ali (gestorben 661) zu seinem rechtmäßigen Nachfolger ernannt hat.

Die schiitische Auffassung, dass allein die leiblichen Nachkommen Alis als die wahren Führer (arabisch imām) der gesamten muslimischen Gemeinschaft gelten, ist für die Sunniten inakzeptabel. Demzufolge lehnen sie die Verehrung der Imame und den für das Schiitentum essenziellen Glauben an die Wiederkehr eines verborgenen Imams (al-Mahdī) als unislamisch ab.

Das in der heutigen Islamischen Republik Iran vorherrschende Regierungskonzept der »Herrschaft des Rechtsgelehrten« ist im 20. Jahrhundert vom iranischen Gelehrten Āyatollāh Khomeini entwickelt worden. Als Ausdruck einer vollkommen neuen Interpretation schiitisch-islamischer Herrschaft ist dieses Staatsmodell unter schiitischen Gelehrten bis auf den heutigen Tag umstritten und wird von Sunniten als Bedrohung empfunden.

Der islamische Bruderkrieg ist indes nicht weltweit ausgebrochen. Kriege und Unruhen gibt es überwiegend im Nahen Osten und in Nordafrika, wo 93 Prozent der Menschen muslimisch sind. Die Asien-Pazifik-Region beherbergt weit mehr Muslime – über 60 Prozent der über 1,5 Milliarden weltweit –, aber dennoch herrscht dort deutlich mehr Ruhe als im Nahen Osten und Afrika. Natürlich: Auch in Asien gibt es radikale muslimische Milizen und Verbände, aber die spielen bei Weitem keine so große Rolle wie die im Nahen Osten. Das größte muslimische Land in Südostasien ist Indonesien mit rund 240 Millionen Einwohnern.

Was lehrt uns das? Der sunnitisch-schiitische Bruderkrieg im Nahen und Mittleren Osten ist bewusst geschürt, um die ölreichste Region der Erde zu destabilisieren und anschließend zu beherrschen. In meinem neuen Buch Der direkte Weg in den Dritten Weltkrieg schreibe ich zu diesem Thema unter anderem:

»Unbeachtet von der Öffentlichkeit gibt es eine Militärdoktrin der USA, die dem entspricht, was man unter deep politics, also geheime Agenda, versteht: die Chaostheorie von Leo Strauss (1899–1973). Der politische US-Philosoph versammelte um sich eine kleine Gruppe von Studenten, von denen die meisten später für das Verteidigungsministerium arbeiteten. Sie bildeten eine Art Sekte und inspirierten die Pentagon-Strategie.

Als die amerikanische Presse im Jahr 2003 begann, die Chaostheorie publik zu machen, reagierte das Weiße Haus mit dem Slogan des Konstruktiven Chaos, was bedeuten sollte, dass man unterdrückende Strukturen zerstören würde, damit Leben ohne Einschränkung entstehen könnte. Aber nie hatten weder Leo Strauss noch das Pentagon zuvor diesen Begriff verwendet.

Im Gegenteil, ihrer Meinung nach sollte das Chaos so sein, damit sich nichts strukturieren könnte, abgesehen von dem Willen des Schöpfers der neuen Ordnung, der Vereinigten Staaten.

Das Prinzip dieser strategischen Doktrin lässt sich so zusammenfassen: Das Einfachste, um natürliche Ressourcen eines Landes über einen langen Zeitraum zu plündern, ist nicht, es zu besetzen, sondern den Staat zu zerstören. Ohne Staat keine Armee. Ohne feindliche Armee kein Risiko für eine Niederlage. Deshalb ist das strategische Ziel der US-Armee und der von ihr geleiteten Allianz, der NATO, die Staaten zu zerstören. Was aus der betroffenen Bevölkerung wird, ist nicht Washingtons Problem.

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