Die zerschlagenen Träume der ägyptischen Jugend

Am Montag jährt sich die ägyptische Revolution zum fünften Mal. In Kairos Innenstadt durchsuchen Polizisten Wohnungen und Kulturinstitutionen. Das Regime wirkt paranoid.
  • von Monika Bolliger, Kairo
Es begann alles harmlos. Ein Mann in Zivil klingelte an der Tür des kleinen Kulturzentrums in der Innenstadt von Kairo und behauptete, ein Studio zur Miete zu suchen. Etwas später kehrte er jedoch in Begleitung von acht Polizisten zurück, alle in Zivil. Sie gaben vor, eine Kontrolle wegen Verdacht auf verletzte Urheberrechte durchzuführen, durchsuchten die Räume, konfiszierten Computer und Ausstellungsmaterial. Dem einen Beamten war ein Buch über Lenin suspekt. Das einzige Ausstellungsstück, das annähernd politisch relevant war, konfiszierten sie jedoch nicht. Offenbar konnten sie nichts damit anfangen. Sie verhafteten einen Mitarbeiter.

Unberechenbar und paranoid

Nach anderthalb Tagen banger Ungewissheit wurde der Mitarbeiter freigelassen. Die Computer hat das Kulturinstitut, in dem ein ambitioniertes junges Team mit bescheidenen Mitteln Ausstellungen, Filmvorführungen und Medienkurse organisiert, nicht mehr erhalten. Reihenweise Cafés, Kulturinstitute und Privatwohnungen erhielten seither Besuch von der Polizei, meist unter dem Vorwand, Mietverträge, Bewilligungen oder die Einhaltung von Urheberrechten zu überprüfen. Anfang Monat wurden drei Personen wegen Unterhalts von Facebook-Seiten verhaftet, die zu Protesten aufriefen.
Vor fünf Jahren zwangen in Ägypten Massenproteste den Machthaber Hosni Mubarak nach fast 30 Jahren an der Staatsspitze zum Rücktritt. - Demonstranten versammeln sich am 6. Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo zum Protest gegen den langjährigen Präsidenten Mubarak.
Ein Teilnehmer der Proteste auf dem Tahrir-Platz im Februar 2011 legt sich auf den Rädern eines Panzers der Armee schlafen.
Demonstranten auf dem Tahrir-Platz reagieren am 10. Februar 2011 auf die am Fernsehen übertragene Erklärung von Präsident Mubarak, dass er seine Vollmachten an Vizepräsident Omar Suleiman übergeben, sein Amt als Präsident aber nicht abgeben werde.

Vor fünf Jahren zwangen in Ägypten Massenproteste den Machthaber Hosni Mubarak nach fast 30 Jahren an der Staatsspitze zum Rücktritt. Nach einer Übergangsphase wurde Mohammed Mursi aus den Reihen der Muslimbrüder 2012 zum Präsidenten gewählt. Ein Jahr später stürzte das Militär Mursi nach weiteren massenhaften Protesten und setzte Generalstabschef Abdelfatah al-Sisi als neuen Präsidenten des Landes ein.

Der 25. Januar steht vor der Tür und damit das Fünf-Jahr-Jubiläum der Revolution, die 2011 den Autokraten Mubarak stürzte. Das restaurierte Regime ist entschlossen, jeden Versuch zur Planung einer Demonstration im Keim zu ersticken.

«Ihre Strategie ist auf perfide Weise wirkungsvoll», sagt eine Mitarbeiterin des Kulturinstitutes. «Sie sind einerseits dilettantisch, aber andererseits kann es plötzlich böse enden. Es ist total unberechenbar, und es wirkt – wir sind verunsichert.» Nur schon die Frage, ob und wie man den Medien von den Durchsuchungen berichten soll, stellt die Kulturschaffenden vor ein Dilemma. Einerseits will man keine Risiken eingehen, andererseits will man sich auch nicht völlig lähmen lassen. Die meisten wählen deshalb für den Moment den Weg der Anonymität.
Im Milieu von Aktivisten fragt man sich, ob es sich bei den jüngsten Entwicklungen um eine temporäre Verschärfung der Repression im Stadtzentrum handelt, weil hier die Proteste von 2011 ihren Mittelpunkt hatten, oder ob der Schraubstock langfristig einfach noch etwas mehr angezogen wird. Schon in früheren Etappen seit dem Putsch von 2013 wurden hier Cafés geschlossen, allem Anschein nach mit dem Ziel, das junge, unabhängige Kulturleben, das hier seit der Revolution aufgeblüht war, aus der Innenstadt wegzudrängen. Jetzt wirkt das Regime geradezu paranoid.

Traum vom Auswandern

Dabei ist es unwahrscheinlich, dass es am Montag zu grösseren Demonstrationen kommt. Zwar wächst die Unzufriedenheit wieder, da sich weder die wirtschaftliche Lage gebessert noch an der Korruption sich etwas geändert hat. Aber die Resignation ist gross. Eine geeinte, breite Protestbewegung wie 2011 scheint kaum möglich. Gegner des Regimes Sisi sind in Säkularisten und Islamisten gespalten. Oppositionelle sitzen hinter Gitter oder sind im Exil, Journalisten werden eingeschüchtert, Aktivisten sind desillusioniert. Junge Ägypter, die einst voller Hoffnung waren, dass sie sich an der Gestaltung einer besseren Zukunft für das Land beteiligen würden, träumen vom Auswandern. Manche, die eine Chance bekamen, haben das Land bereits verlassen.

Eine Handvoll Unermüdlicher, die es trotz allem an einem Tag im November gewagt hatten, eine kleine Demonstration auf einer Brücke in der Innenstadt abzuhalten und der Revolution zu gedenken, bezahlt einen hohen Preis. Der kleine Protest wurde aufgelöst, Teilnehmer verhaftet. Einer der Verhafteten ist Ahmed Said, ein junger idealistischer Arzt. Während der Revolution hatte er medizinische Soforthilfe für verletzte Demonstranten geleistet, unter anderem bei einer berüchtigten Strassenschlacht in der Kairoer Mohammed-Machmud-Strasse im November 2011, bei der 47 Personen ums Leben kamen. Die kleine Demonstration sollte der Todesopfer gedenken.

Said wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das Gericht beruft sich auf ein von Menschenrechtlern kritisiertes Gesetz gegen Proteste, doch selbst dieses gilt eigentlich im Fall von Said nicht, weil er nicht während der Demonstration, sondern später in einem anderen Stadtviertel verhaftet wurde – von Polizisten in Zivil ohne Haftbefehl. Die Anklage hat kurzerhand eine Demonstration erfunden, die im besagten Stadtviertel stattgefunden haben soll. Die geplante Heirat Saids mit seiner deutschen Verlobten kann vorerst nicht stattfinden.

Uringeruch und Folter

Laut einem Anwalt von Said wurde dieser in der Haft geschlagen, mit brennenden Zigaretten traktiert und mit Elektroschocks gefoltert. Die Schilderungen der Angehörigen über die Haftbedingungen sind keine Überraschung: Manchmal sind die Zellen so überfüllt, dass die Insassen kaum sitzen können. Oft gibt es kein fliessendes Wasser, die hygienischen Zustände sind erbärmlich, es gibt Kakerlaken, viele lesen sich Krankheiten auf. Es riecht nach Urin, die Toilette ist im selben Raum. Die Familienmitglieder, die ihn am Anfang der Haft jeweils am Abend kurz besuchen durften – nach stundenlangem Anstehen 30 Sekunden –, mussten ihm Nahrungsmittel und Kleider bringen. Wenn man den Polizisten Geld gibt, behandeln sie die Gefangenen etwas besser.

«Sie glauben, dass die Beseitigung derer, die an eine Idee glauben, auch die Idee selbst tötet. Sie sind eine Horde von Unwissenden und Blinden mit Waffen», schrieb Said in einem Brief aus dem Gefängnis. Er war 2011 zu Beginn der Revolution aus Saudiarabien angereist und ging direkt vom Flughafen auf den Tahrir-Platz. Später, als die Unzufriedenheit über die erste demokratisch gewählte Regierung der Muslimbrüder von Mohammed Mursi wuchs, demonstrierte Said gegen die Islamisten. Diese wirkten inkompetent und gebärdeten sich zunehmend autoritär.

Die Frage der Gewalt

Bei den Massenprotesten gegen Mursi, die der damalige Generalstabschef und heutige Präsident Abdelfatah al-Sisi 2013 zum Anlass für seinen Putsch nahm, war Ägypten tief gespalten in Anhänger der Muslimbrüder und ihre Gegner. Letztere bildeten die Mehrheit. Liberale Aktivisten, die den Putsch zunächst begrüsst hatten, mussten jedoch nach und nach merken, dass sich die neue Welle der Repression auch gegen sie richtete. Die Spaltung unter den politisch aktiven Jungen ist jedoch geblieben. Was sie eint, sind enttäuschte Hoffnungen, Perspektivlosigkeit, Traumata.

Magdy* gehört zur Jugendorganisation der Muslimbruderschaft und hat auch schon Erfahrungen mit Folter in der Haft gemacht. Während er spricht, macht er aus jedem tragischen oder absurden Sachverhalt einen Witz und grinst über das ganze Gesicht – eine Kunst und zugleich Überlebensstrategie, welche die Ägypter perfektioniert haben. Was er erzählt, ist eigentlich nicht zum Lachen. 2013 sass der feingliedrige junge Mann, der fast noch wie ein Kind wirkt, wegen der Teilnahme an einem Studentenprotest einen Monat lang im Gefängnis.

Magdy schildert, wie er auf einem Stuhl mit Nägeln auf der Sitzfläche sitzen musste. Dann wird er verlegen. Er habe wochenlang nicht sitzen können und Entzündungen an einer bestimmten Körperstelle gehabt. Magdy hat Freunde verloren, die von den Sicherheitskräften getötet wurden. Die Muslimbruderschaft wurde von Präsident Sisis Militärregime zur Terrororganisation erklärt und in den Untergrund verdammt. Das Massaker von Rabaa 2013, bei dem Hunderte Anhänger der Muslimbrüder getötet wurden, fand viel Beifall in der ägyptischen Öffentlichkeit und wird entgegen allen Augenzeugenberichten als Niederschlagung eines Aufstandes bewaffneter Terroristen dargestellt.

Radikalisierte Muslimbrüder

Magdy sass zu dem Zeitpunkt im Gefängnis. Mehrere seiner Freunde waren bei Rabaa dabei, nicht alle haben überlebt. Er meint, nur halb scherzend: «Ich wünschte, ich wäre da gewesen und getötet worden. Das wäre einfacher als der Schmerz, mit dem wir leben.» Er sinniert darüber, ob es legitim wäre, Gewalt gegen ein solches Regime anzuwenden, ob die Voraussetzungen für den bewaffneten Jihad gegeben wären. Manche jungen Muslimbrüder haben sich mit der älteren Führung zerstritten, weil diese nicht zum Jihad rufen wollte. Das Ausmass lässt sich nicht überprüfen, doch weiss man von einzelnen belegten Fällen junger Muslimbrüder, die deshalb zum IS gewechselt sind.

Man merkt Magdy an, dass ihm beim Gedanken an Gewalt unwohl ist. Er glaube nicht, dass das etwas bringe, es würde wohl alles nur noch schlimmer, meint er. Aber demonstrieren könne man ja auch nicht mehr. Er ist ratlos, sagt, er warte ab. Er fühlt sich verpflichtet, all denen gegenüber, die ihr Leben liessen oder im Gefängnis in miserablen Haftbedingungen von der Öffentlichkeit vergessen werden: «Wir können all die Leute doch nicht einfach im Stich lassen.» Als Magdy sich verabschiedet, grinst er wieder über das ganze Gesicht. Aber uns ist eher zum Heulen zumute.
* Name geändert.

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