Von Frank Nordhausen
Bei einem Istanbuler Protestmarsch gegen Gewalt gegen Frauen liefen im Februar 2015 auch Männer mit – solidarisch gekleidet. Foto REUTERS
Minnos, die Reizende, heißt eine
Katze, die in der Türkei Heldenstatus erlangte. Denn die „Reizende“
rettete ihre Besitzerin davor, sexuell missbraucht zu werden. Am
Mittwoch wurde ein 20-jähriger Mann im südostanatolischen Diyarbakir zu
siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er seine zwei Jahre
jüngere Stieftante zu vergewaltigen versucht hatte. Doch der Versuch
scheiterte, weil Minnos sich auf den Angreifer stürzte und ihn solange
mit ihren Krallen traktierte, bis er von ihrer Besitzerin abließ.
Die
junge Frau bezeichnete gegenüber Reportern der türkischen Medien den
Schwiegersohn ihrer älteren Schwester als „Wüstling“ und „Perversen“.
„Er hätte mich töten können, aber meine Katze rettete mir das Leben“,
sagte sie. „Minnos ist meine Heldin!“ Sie habe die Katze vor drei Jahren
von ihrem Mann geschenkt bekommen. „Sie ist mir unendlich viel wert und
wird immer bei uns sein.“
Ihre Anwältin Deniz
Emine Kayar will trotzdem Berufung einlegen, weil das Gericht den
Angreifer nur wegen „sexuellen Missbrauchs“, nicht aber wegen „schweren
sexuellen Missbrauchs“ verurteilt habe. „Dazu kam es nur aus einem
einzigen Grund nicht: weil die Katze ihn angriff. Doch das Gericht hat
entschieden, als ob der Angeklagte sich freiwillig zurückzog“,
bemängelte sie den Richterspruch. „Der Beitrag der Katze wurde nicht ins
Urteil einbezogen.“
Nicht einbezogen wurde auch
die erschreckend hohe Zahl von Gewalttaten gegen Frauen in der Türkei.
Fast täglich werden Frauen umgebracht, meist von ihren Ehemännern,
Vätern oder Brüdern. Die Zahlen steigen rasant. Die Bürgerinitiative
„Wir werden Frauenmorde stoppen“ veröffentlichte kürzlich einen Bericht,
wonach im Jahr 2015 insgesamt 303 Frauen in der Türkei ermordet wurden,
davon etwa 30 Prozent von ihrem Ehemann und 25 Prozent von einem
Familienmitglied. Im Jahr davor waren es 281 Tote und davor 214. Allein
von 2003, dem Zeitpunkt der Regierungsübernahme des jetzigen
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, bis 2010 stieg die Zahl
getöteter Frauen um mehr als das Zehnfache.
Nach
Angaben der oppositionellen Internetplattform Bianet besteht für Frauen
eine größere Gefahr, von einem Mann totgeschlagen, erstochen oder
erschossen zu werden, als durch einen Autounfall oder Krebs zu sterben.
Gewalt ist demnach die Haupttodesursache von türkischen Frauen zwischen
15 und 44 Jahren. „Wir versuchen jeden Tag, den männlichen Terror zu
überleben“, sagte die Vize-Vorsitzende der linken prokurdischen Partei
HDP dem Internetmedium Al-Monitor.
Frauenverbände vermuten, dass die
steigende Zahl der Morde mit der geringen Zahl weiblicher Staatsanwälte,
den häufigen Strafmilderungen für Vergewaltiger und Frauenmörder, aber
auch mit den offen frauenfeindlichen Sprüchen von Spitzenpolitikern der
islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zu tun habe.
Präsident
Erdogan hat oft genug klar gemacht, wohin Frauen seiner Meinung nach
gehören: ins Haus, um mindestens drei Kinder zu gebären. „Frauen sind
von Gott den Männern anvertraut“, sagte er, die Gleichstellung von
Frauen und Männern sei unnatürlich. Der ehemalige Vizepremier Bülent
Arinc beklagte sich über „unmoralische“ Frauen, die in der
Öffentlichkeit laut lachten. Der AKP-Abgeordnete Ismet Ucma erklärte,
die beliebten TV-Soap-Operas seien am Anstieg der Vergewaltigungen
schuld, weil sie die „Natur der türkischen Familie“ ruinierten. Und
Premier Ahmet Davutoglu setzte kürzlich das Kinderkriegen von Frauen mit
dem Militärdienst der Männer gleich.
Als im
vergangenen Frühjahr landesweite Demonstrationen wegen der in Mersin von
einem Sammeltaxifahrer vergewaltigten und ermordeten
Psychologiestudentin Özgecan Aslan stattfanden und ein Sturm der
Empörung durch die sozialen Medien fegte, gaben prominente AKP-Anhänger
der 20-Jährigen wie so oft indirekt die Schuld dafür, doch diesmal
mischte sich Erdogan persönlich ein und versprach, dass das Verbrechen
unnachsichtig gesühnt werde. Inzwischen wurden der Täter und seine
Helfer zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Doch aus dem
versprochenen Gesetz zum Schutz von Frauen ist bislang nichts geworden,
und als vor zwei Wochen eine 19-Jährige um drei Uhr morgens mitten im
gehobenen Istanbuler Ausgehviertel Kadiköy vergewaltigt wurde, gab es
zwar erneut einen Aufschrei der linken Öffentlichkeit. Aber im
konservativen Teil der Gesellschaft rasteten die bekannten Macho-Reflexe
wieder ein, wonach die „männliche Natur“ triebgesteuert sei und Frauen
sich am besten schützten, wenn sie sich „schamhaft kleideten“ und nach
Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße gingen.
Sevget
Eygi, ein Kolumnist der regierungsnahen Zeitung „Vahdet“, überschrieb
seinen Kommentar zu dem Verbrechen: „Keine Frau hat das Recht, sich
anzuziehen und auszugehen wie eine Prostituierte.“ Im Artikel behauptete
er, es sei „eine nicht zu leugnende Tatsache, dass einige Frauen und
Mädchen sich beim Ausgehen in einer Art anziehen, die Männer verrückt
macht und erregt“. Die betroffenen Frauen machte er zu einem gewissen
Grad mitverantwortlich: „Verdammt sei der Vergewaltiger, aber verdammt
seien auch jene, die ihn dazu anstiften.“
Zu
diesem Kommentar bemerkte die liberalkonservative oppositionelle Zeitung
„Zaman“: „Genug ist genug!“ Während der Präsident und der
Regierungschef sich sonst zu allem und jedem äußerten, schwiegen sie
über den Vorfall in Istanbul. Trotz all der Demonstrationen und Debatten
ändere sich de facto nichts. „Kann es sein, dass sie denken, dies ist
das Schicksal von Frauen in der Türkei? Sie hätten eben nicht als Frauen
geboren werden sollen?“
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