Frauen leben gefährlich in der Türkei

Von  
 
Bei einem Istanbuler Protestmarsch gegen Gewalt gegen Frauen liefen im Februar 2015 auch Männer mit – solidarisch gekleidet. Foto REUTERS
 

Fast täglich werden in der Türkei Frauen umgebracht, meist von ihren Ehemännern, Vätern oder Brüdern. Aus dem versprochenen Gesetz zum Schutz von Frauen ist bislang nichts geworden, für Präsident Erdogan gehören Frauen ins Haus und nicht auf die Straße.

Minnos, die Reizende, heißt eine Katze, die in der Türkei Heldenstatus erlangte. Denn die „Reizende“ rettete ihre Besitzerin davor, sexuell missbraucht zu werden. Am Mittwoch wurde ein 20-jähriger Mann im südostanatolischen Diyarbakir zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, weil er seine zwei Jahre jüngere Stieftante zu vergewaltigen versucht hatte. Doch der Versuch scheiterte, weil Minnos sich auf den Angreifer stürzte und ihn solange mit ihren Krallen traktierte, bis er von ihrer Besitzerin abließ.

Die junge Frau bezeichnete gegenüber Reportern der türkischen Medien den Schwiegersohn ihrer älteren Schwester als „Wüstling“ und „Perversen“. „Er hätte mich töten können, aber meine Katze rettete mir das Leben“, sagte sie. „Minnos ist meine Heldin!“ Sie habe die Katze vor drei Jahren von ihrem Mann geschenkt bekommen. „Sie ist mir unendlich viel wert und wird immer bei uns sein.“
Ihre Anwältin Deniz Emine Kayar will trotzdem Berufung einlegen, weil das Gericht den Angreifer nur wegen „sexuellen Missbrauchs“, nicht aber wegen „schweren sexuellen Missbrauchs“ verurteilt habe. „Dazu kam es nur aus einem einzigen Grund nicht: weil die Katze ihn angriff. Doch das Gericht hat entschieden, als ob der Angeklagte sich freiwillig zurückzog“, bemängelte sie den Richterspruch. „Der Beitrag der Katze wurde nicht ins Urteil einbezogen.“

Nicht einbezogen wurde auch die erschreckend hohe Zahl von Gewalttaten gegen Frauen in der Türkei. Fast täglich werden Frauen umgebracht, meist von ihren Ehemännern, Vätern oder Brüdern. Die Zahlen steigen rasant. Die Bürgerinitiative „Wir werden Frauenmorde stoppen“ veröffentlichte kürzlich einen Bericht, wonach im Jahr 2015 insgesamt 303 Frauen in der Türkei ermordet wurden, davon etwa 30 Prozent von ihrem Ehemann und 25 Prozent von einem Familienmitglied. Im Jahr davor waren es 281 Tote und davor 214. Allein von 2003, dem Zeitpunkt der Regierungsübernahme des jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, bis 2010 stieg die Zahl getöteter Frauen um mehr als das Zehnfache. 

Nach Angaben der oppositionellen Internetplattform Bianet besteht für Frauen eine größere Gefahr, von einem Mann totgeschlagen, erstochen oder erschossen zu werden, als durch einen Autounfall oder Krebs zu sterben. Gewalt ist demnach die Haupttodesursache von türkischen Frauen zwischen 15 und 44 Jahren. „Wir versuchen jeden Tag, den männlichen Terror zu überleben“, sagte die Vize-Vorsitzende der linken prokurdischen Partei HDP dem Internetmedium Al-Monitor. 

Frauenverbände vermuten, dass die steigende Zahl der Morde mit der geringen Zahl weiblicher Staatsanwälte, den häufigen Strafmilderungen für Vergewaltiger und Frauenmörder, aber auch mit den offen frauenfeindlichen Sprüchen von Spitzenpolitikern der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zu tun habe.

Präsident Erdogan hat oft genug klar gemacht, wohin Frauen seiner Meinung nach gehören: ins Haus, um mindestens drei Kinder zu gebären. „Frauen sind von Gott den Männern anvertraut“, sagte er, die Gleichstellung von Frauen und Männern sei unnatürlich. Der ehemalige Vizepremier Bülent Arinc beklagte sich über „unmoralische“ Frauen, die in der Öffentlichkeit laut lachten. Der AKP-Abgeordnete Ismet Ucma erklärte, die beliebten TV-Soap-Operas seien am Anstieg der Vergewaltigungen schuld, weil sie die „Natur der türkischen Familie“ ruinierten. Und Premier Ahmet Davutoglu setzte kürzlich das Kinderkriegen von Frauen mit dem Militärdienst der Männer gleich.

Als im vergangenen Frühjahr landesweite Demonstrationen wegen der in Mersin von einem Sammeltaxifahrer vergewaltigten und ermordeten Psychologiestudentin Özgecan Aslan stattfanden und ein Sturm der Empörung durch die sozialen Medien fegte, gaben prominente AKP-Anhänger der 20-Jährigen wie so oft indirekt die Schuld dafür, doch diesmal mischte sich Erdogan persönlich ein und versprach, dass das Verbrechen unnachsichtig gesühnt werde. Inzwischen wurden der Täter und seine Helfer zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Doch aus dem versprochenen Gesetz zum Schutz von Frauen ist bislang nichts geworden, und als vor zwei Wochen eine 19-Jährige um drei Uhr morgens mitten im gehobenen Istanbuler Ausgehviertel Kadiköy vergewaltigt wurde, gab es zwar erneut einen Aufschrei der linken Öffentlichkeit. Aber im konservativen Teil der Gesellschaft rasteten die bekannten Macho-Reflexe wieder ein, wonach die „männliche Natur“ triebgesteuert sei und Frauen sich am besten schützten, wenn sie sich „schamhaft kleideten“ und nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße gingen. 

Sevget Eygi, ein Kolumnist der regierungsnahen Zeitung „Vahdet“, überschrieb seinen Kommentar zu dem Verbrechen: „Keine Frau hat das Recht, sich anzuziehen und auszugehen wie eine Prostituierte.“ Im Artikel behauptete er, es sei „eine nicht zu leugnende Tatsache, dass einige Frauen und Mädchen sich beim Ausgehen in einer Art anziehen, die Männer verrückt macht und erregt“. Die betroffenen Frauen machte er zu einem gewissen Grad mitverantwortlich: „Verdammt sei der Vergewaltiger, aber verdammt seien auch jene, die ihn dazu anstiften.“ 

Zu diesem Kommentar bemerkte die liberalkonservative oppositionelle Zeitung „Zaman“: „Genug ist genug!“ Während der Präsident und der Regierungschef sich sonst zu allem und jedem äußerten, schwiegen sie über den Vorfall in Istanbul. Trotz all der Demonstrationen und Debatten ändere sich de facto nichts. „Kann es sein, dass sie denken, dies ist das Schicksal von Frauen in der Türkei? Sie hätten eben nicht als Frauen geboren werden sollen?“

Kommentare