Eine Schweizer
Tageszeitung verharmlost durch einen absurden Vergleich den
islamistischen Terrorismus und spricht damit dessen Opfern Hohn.
Zugleich verengt sie ihren Blickwinkel dermassen, dass sie völlig ausser
Acht lässt, welche globalen Ziele die Attentäter verfolgen.
Drei Tage nach den Terroranschlägen in Brüssel erschien im Zürcher «Tages-Anzeiger» ein Beitrag von Constantin Seibt,
«Reporter Recherche» bei dieser Zeitung, der im Netz so viel
Aufmerksamkeit, Lob und Bekanntheit erfuhr wie kaum ein anderer im
deutschsprachigen Raum zu den Attacken in der belgischen Hauptstadt.
«Fürchte dich nicht», lautete sein Titel, und die Unterzeile nahm das
Ergebnis des Textes vorweg: «Betrachtet man die Statistiken, ist der
islamistische Terrorismus in Europa erstaunlich erfolglos.» Denn seit
den Anschlägen in New York und Washington am 11.
September 2001, schrieb
Seibt, hätten islamistische Attentäter in Westeuropa und den USA zwar
etwa 450 Menschen ermordet, und gewiss sei jeder dieser Morde grausam.
Doch es gebe Gefährlicheres: «Allein in Deutschland ersticken pro Jahr
über 1.000 Leute an verschluckten Fremdkörpern.» Ursprünglich hatte der
Autor als Vergleichsgrösse die angeblich 500 Menschen genannt, die in
der Bundesrepublik jährlich durch Fischgräten zu Tode kämen. Das änderte er
allerdings rasch, nachdem ihm der Publizist Rainer Meyer (bekannter
unter seinem Pseudonym «Don Alphonso») auf einem Blog der FAZ nachgewiesen hatte, dass diesbezüglich gar keine offizielle Statistik existiert.
Doch gleich, ob Fischgräten oder sonstige
Fremdkörper – was bleibt, ist die Botschaft, dass es im Westen grössere
Bedrohungen für Leib und Leben gibt als islamistische Attentäter, die
zwar, so Seibt, «ein Monster für die Fantasie», aber bloss «eine Mikrobe
für die Statistik» seien. Diese Entwarnung wurde, wie Rainer Meyer
dokumentiert hat, im Netz aussergewöhnlich rege geteilt, retweetet und
mit Facebook-Likes versehen. Von der «Handelsblatt»-Redakteurin über den
wirtschaftspolitischen Sprecher der deutschen Grünen bis zum Büroleiter
eines EU-Kommissars und unzähligen weiteren Lesern verbreiteten etliche
die frohe Kunde: Es ist alles halb so wild! Dabei zeugten der
Fischgrätenvergleich und die daraus resultierende Aussage von einer
«mangelnden Bereitschaft, sich mit den praktischen Folgen von Terror
auseinanderzusetzen», kritisierte Meyer. Wer ernsthaft zu diesem Thema
arbeite, der wisse, dass es mit dem Zählen der Toten nicht vorbei ist.
«Speziell Nagelbomben wie in Brüssel haben eine vielfach höhere Zahl von
Verletzten zur Folge, und für viele ist das gute Leben danach für immer
vorbei. Sie sind behindert, traumatisiert und entstellt, und von einem
Redakteur Recherche würde man schon erwarten, dass er in diesem Kontext
die schockierenden Berichte zur Splitterwirkung kennt, egal ob aus
Israel, vom Oktoberfestattentat, aus London oder dem Irak.»
Abgesehen davon scheinen Seibt die
gravierenden Unterschiede zwischen einem Unglück und einem (Massen-)Mord
nicht hinreichend klar zu sein. Wer an einem verschluckten Fremdkörper
stirbt, wird unbeabsichtigt zum Opfer eines Unfalls, während Tod und
Verletzung bei einem Terroranschlag von anderen Menschen vorsätzlich
herbeigeführt werden. Letzteres ist geeignet, das Grundvertrauen in die
Menschen tief zu erschüttern, in die Sicherheit und Geborgenheit, die
Selbstverständlichkeit des Lebens und in die Behörden. Es geht also um
erheblich mehr als die körperliche Unversehrtheit, wenn man sich seines
Lebens (und des Lebens seiner Nächsten) nicht mehr sicher sein kann,
weil es Kräfte in der Nähe gibt, die einem gezielt nach dem Leben
trachten und vor nichts zurückschrecken – einzig und allein aufgrund
ihres mörderischen Weltbildes. Wer das ausblendet und beispielsweise den
Fischkonsum für gefährlicher hält, ist ein Zyniker, dem die Massstäbe
komplett durcheinandergeraten sind.
Weltweite Zunahme des Terrors
Wie absurd es ist, die Bedrohung durch den Terror mit dem Hinweis auf im Alltag lauernde Gefahren zu einer statistischen Quantité négligeable
zu machen – und damit den Opfern Hohn zu sprechen –, wird zudem durch
jenen besonders prägnanten Vergleich deutlich, den Rainer Meyer
anstellte: «Niemand im Journalismus käme hoffentlich auf die Idee, der
türkisch- und griechischstämmigen Gemeinschaft in Deutschland
vorzurechnen, dass die Gefahren durch den NSU [Nationalsozialistischen Untergrund] statistisch gesehen viel kleiner als die des Rauchens oder des Fahrverhaltens im Strassenverkehr
sind – selbst wenn das statistisch belegbar wäre.» Die
Unvergleichbarkeit von Massenmorden und Unfällen gehöre schliesslich
auch zu den Werten, von denen Seibt schreibt, «unsere gesamte
Zivilisation wurde auf ihnen gebaut». Einen solchen Vergleich erwarte
man nach dem Bekanntwerden des NSU daher allenfalls auf einer Naziseite.
«Irgendwie», so Meyer weiter, «ist es aber völlig in Ordnung, wenn sich
der Mord durch die gleiche Art Extremismus gegen die westliche
Gesellschaft richtet».
Dieser Relativismus mag nicht zuletzt damit
zusammenhängen, dass es zutiefst verachtenswerte Kräfte gibt, die in so
ziemlich jedem in Europa lebenden Muslim einen potenziellen Terroristen
sehen und denen es nicht um die Kritik des politischen Islam als
Ideologie geht, sondern um die Bekämpfung der real existierenden Muslime
als Fremde. Doch das kann selbstverständlich kein Grund sein,
die mörderische Gefährlichkeit des Islamismus zur statistischen
Randnotiz herunterzuspielen. Zumal hier etwas Entscheidendes hinzukommt,
das Constantin Seibt geflissentlich ausblendet: Zwar stimmt es, dass
der Terror in Westeuropa seit 2001 insgesamt nicht gestiegen ist, wenn
man die Zahl der Anschläge und der Opfer zugrundelegt. Global gesehen
jedoch hat er deutlich zugenommen,
in besonderem Masse in den vergangenen fünf Jahren, was vor allem
islamistischen Organisationen wie Boko Haram, den Taliban, al-Qaida und
dem Islamischem Staat (IS) zuzuschreiben ist. Im Jahr 2011 wurden
weltweit 2.251 Terroranschläge mit 7.149 Toten verübt, 2014 waren es
bereits 6.334 Attacken, bei denen 32.257 Menschen getötet wurden. Die
meisten Terroropfer gab es im Zeitraum zwischen 2001 und 2014 im Irak
(42.759), in Afghanistan (16.888) und in Pakistan (13.524). Das sind
erschütternde Zahlen.
Verengter Fokus
Nun ist Constantin Seibt beileibe nicht der
Einzige, der beim Thema Terror seinen Fokus auf Westeuropa verengt und
so zu dem Schluss kommt, dass die Lage doch gar nicht so dramatisch sei.
Das wiederum wirft eine Frage auf, die Stefan Frank in einem Beitrag für Audiatur Online
gestellt hat: «Wollen Journalisten womöglich am liebsten gar nicht über
Terrorismus reden und tun es nur widerwillig – dann, wenn es wegen der
geografischen Nähe des Anschlagsziels unvermeidlich ist?» Würde über
alle Terroranschläge berichtet werden, so Frank, dann würde das
«vielleicht zu Erkenntnissen führen, die dem Medienestablishment
unangenehm wären: Niemand könnte mehr leugnen, dass Dschihadisten einen
Weltkrieg führen – gegen alle, die aus ihrer Sicht den Tod verdient
haben: Christen, Juden, Kurden, Hindus und solche Muslime, die den
Terroristen als nicht schariatreu gelten oder von ihnen als Konkurrenten
im Kampf um die Macht wahrgenommen werden.» Auch die Mär vom
Terrorismus als einer «Waffe der Schwachen», die sich gegen «die Politik
des Westens» richte, wäre dann hinfällig.
Zweifellos gibt es auch andere Gründe als
diese, warum Terrorangriffe ausserhalb Europas und der USA in den
westlichen Medien weniger Aufmerksamkeit erfahren. Stefan Frank hat
einige davon zusammengetragen und dabei auf Wissenschaftler
zurückgegriffen, die sich mit der Medienberichterstattung über den
Terrorismus beschäftigen: Anschläge im Westen werden als bedrohlicher
empfunden, es gibt eine grössere Nähe zu den Opfern, die
Erwartungshaltung der Medienkonsumenten ist ebenfalls ein Faktor, zudem
ist es einfach und sicher, an den Ort des jeweiligen Anschlags zu
reisen, und es gibt die für die Berichterstattung nötige Infrastruktur.
Doch all dies kann und darf eine Wahrheit nicht in den Hintergrund
drängen, auf die Frank eindringlich hinweist: «Ob Dschihadisten
Terroranschläge in Paris, Nairobi, Brüssel, Jerusalem oder Lahore
verüben, sie sind immer von derselben Motivation getrieben. Im
weltweiten Krieg gegen die ‹Ungläubigen› morden sie ohne Ansehen der
Person, ihres Status und ihrer Nationalität. Sie machen keinen
Unterschied zwischen ‹Ungläubigen› in Europa, Israel, Pakistan,
Argentinien, den USA und Kenia. Die Medien sollten dies bei der
Berichterstattung auch nicht tun.» Und sie sollten es tunlichst
unterlassen, den Terror durch abwegige Vergleiche mit Alltagsrisiken zu
verniedlichen.
Alex Feuerherdt ist freier Autor und lebt in Köln. Er hält Vorträge zu den Themen Antisemitismus, Israel und Nahost und schreibt regelmässig für verschiedene Medien, unter anderem für die «Jüdische Allgemeine», «n-tv.de», «Konkret» und die «Jungle World». Zudem ist er der Betreiber des Blogs «Lizas Welt».
Alex Feuerherdt ist freier Autor und lebt in Köln. Er hält Vorträge zu den Themen Antisemitismus, Israel und Nahost und schreibt regelmässig für verschiedene Medien, unter anderem für die «Jüdische Allgemeine», «n-tv.de», «Konkret» und die «Jungle World». Zudem ist er der Betreiber des Blogs «Lizas Welt».
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