Vermisste Flüchtlingskinder: Die Recht- und Schutzlosen




Tausende unbegleitete Minderjährige verschwinden laut Europol jedes Jahr in Europa. Oft werden sie Opfer von Ausbeutung und sexuellem Missbrauch – obwohl die Behörden einiges tun könnten, um das zu verhindern.

Spurlos verschwunden, lautet die traurige Feststellung, die die europäische Polizeibehörde Europol Anfang dieses Jahres für mindestens 10.000 Flüchtlingskinder in Europa veröffentlichte. Die Meldung ging durch die  Medien und veranlasste auch Abgeordnete des EU-Parlaments zu einem Brief an den Rat der 28 Mitgliedsstaaten mit der Bitte um Aufklärung. Die verschollenen Minderjährigen seien möglicherweise Opfer paneuropäischer Banden, von denen sie für Sexarbeit, Sklaverei oder sogar Organhandel missbraucht werden könnten, warnten die Parlamentarier.

Diese Vermutung kommt nicht von ungefähr. „Die Mehrheit der Minderjährigen fallen, das wissen wir, Menschenhändlern zum Opfer“, bestätigte Europol-Experte Dietrich Neumann bei einer Debatte im Innenausschuss  des EU-Parlaments  vor einigen Tagen. Beunruhigend sei, dass viele Schleuser auch mit Menschenhändlern in Verbindung stehen. „Minderjährige, die Menschenhändlern in die Hände fallen, werden häufig Opfer von Zwangskriminalität und sexueller Ausbeutung.“

Abhängig von kriminellen Schleppern
„Vielfach sind diese Kinder und Jugendlichen abhängig von kriminellen Schleppern, die keine Skrupel haben, die Notlagen auszunutzen“, meint auch Rudi Tarneden von UNICEF. Doch  viele Erstaufnahmeeinrichtungen in den Zielländern hätten nach wie vor keine ausreichenden Standards zum Kinderschutz.

Viele Experten bemängeln zudem, dass durch Schwächen im Registrierungssystem bis heute ein detaillierter Überblick fehlt, wo sich die jungen Migranten aufhalten oder eben nicht mehr aufhalten. Fehl- und Doppelerfassungen im so genannten EASY-System passieren immer wieder. Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, beklagte kürzlich, Kinder würden oft lange nicht registriert und so lange sie nirgendwo in Obhut seien, seien sie „recht- und schutzlos“.

Die komplette Registrierung in den Mitgliedsstaaten sollte einen klareren Überblick über das Ausmaß der vermisst Gemeldeten geben, forderte auch Dietrich Neumann. Europol betont jedoch, dass nicht allen diesen Kindern etwas passiert sein dürfte. Ein Teil der Kinder könnte sich mittlerweile bei Verwandten aufhalten.

Kinderschutzbehörden brauchen Zugang zu biometrischen Daten
Georgia Dimitropoulou von der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA) fordert darum, dass Kinderschutzbehörden Zugang zu biometrischen Daten erhalten. „Das Fehlen des Kindes wird oft nicht bei der Polizei gemeldet“, bemängelt sie. Gleiches gelte, wenn ein Kind wieder aufgefunden wird. Weil ein Zentralregister fehlt, komme es zu Doppelregistrierungen. Es gebe zwar die rechtlichen Verpflichtungen wie die UN-Konvention zu Kinderrechten, die EU-Aufnahmerichtlinie und die Pflicht zur Benennung von Vormündern, so Dimitropoulou. „Die Frage ist: Warum wird das noch nicht umgesetzt?“

Delphine Moralis von der NGO Missing Childen Europe (MCE) ist überzeugt: „Viele Kinder könnte man finden, wenn der Informationsaustausch – auch grenzüberschreitend – besser funktionieren würde.“ Doch die Strafverfolgungsbehörden seien dafür nicht entsprechend ausgebildet, präzise Verfahren, um die Kinder wiederzufinden, fehlten.

Ebenso wichtig ist Moralis zufolge aber auch die Prävention. „Die Kinder sollten in dem Land Asyl beantragen können, in dem sie sich aufhalten und darüber von den Behörden verständlich aufgeklärt werden.“

Rechtsvorschriften für nicht begleitete Migrantenkinder fehlen oft
Doch viele EU-Staaten weisen hier noch große Mängel auf. Laut einem Bericht der EU-Kommission von 2013 haben nur vier Mitgliedsstaaten haben rechts- und Verwaltungsvorschriften für nicht begleitete Migrantenkinder. In anderen Ländern wird deren Asylantrag nicht unmittelbar behandelt, und verleitet viele Minderjährige, sich allein auf den Weg zu machen, um Freunde oder Verwandte an anderen Orten aufzusuchen.

Die Angst vor Ablehnung des Asylantrags motiviert nicht nur viele erwachsene Flüchtlinge, aus den Aufnahmeeinrichtungen zu verschwinden,  betont die schwedische EU-Abgeordnete Kristina Winberg (EFD). Viele Jugendliche aus Marokko und Afghanistan kämen nach Schweden und beantragten Asyl, das aber häufig abgelehnt wird, sagt sie. „Darauf tauchen die Kinder ab, und die Heimatländer möchten sie häufig nicht zurücknehmen.“

Hintergrund

Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die alleine in die EU einreisten, ist hoch. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind 35 Prozent aller Migranten, die seit dem 1. Januar 2016 in die EU gekommen sind, Kinder. Etwa ein Drittel der Flüchtlinge, die seit dem letzten Sommer nach Deutschland gekommen sind, sind Kinder und Jugendliche.

2015 suchten laut einem von Europol im Februar 2016 veröffentlichten Bericht 85.482 unbegleitete Minderjährige in der EU um Asyl an - dreimal so viele wie im Jahr 2014. Etwa die Hälfte von ihnen waren Afghanen, 13 Prozent waren Syrer.

Laut der EU-Polizeibehörde Europol sind in in den vergangenen zwei Jahren insgesamt rund 10.000  unbegleitete Minderjährige auf der Flucht in Europa verschwunden. Inzwischen liegen von einigen EU-Ländern Daten vor: In Italien sind nach Angaben der Behörden 5000 Flüchtlingskinder unauffindbar, in Schweden 1000, in Deutschland galten zu Beginn des Jahres 2016 rund 4800 unbegleitete minderjährige Migranten zumindest zeitweise als vermisst. Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) zufolge waren 431 von ihnen jünger als 13 Jahre.

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