NATO-Türkei-Beziehungen: Ärger an der Südflanke

Türkische Soldaten stehen am Mausoleum des Staatsgründers Kemal Ataturk bei einer Zeremonie zu seinem 65. Todestag im November 2003.
Türkische Soldaten stehen am Mausoleum des Staatsgründers Kemal Ataturk bei einer Zeremonie zu seinem 65. Todestag im November 2003. 
 
Der NATO-Luftwaffenstützpunkt Incirlik ist weiterhin durch türkische Truppen von der Stromversorgung abgeschnitten. In den USA nehmen die kritischen Stimmen gegenüber dem NATO-Partner deutlich zu. Man sieht das Land auf dem Weg in die islamistische Despotie. Zuletzt wurde sogar die Möglichkeit eines Putsches öffentlich diskutiert.
 

In seinem ersten Interview seit dem gescheiterten Militärputsch am Freitag in der Türkei rief NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Türkei auf, für „eine rasche Rückkehr und die uneingeschränkte Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratische Institutionen“ zu sorgen. Stoltenberg sagte, dass die türkischen Militärs, die „direkt mit der NATO arbeiten“ in Sicherheit sind. Die „Verwirrung“ habe den Betrieb der NATO in der Türkei nicht behindert.

Mehrere NATO-Verbündete zeigten sich wegen der massiven staatlichen Razzien nach dem Putschversuch besorgt. Bisher wurden etwa 50.000 Menschen entweder verhaftet oder entlassen. Unter den Verhafteten befinden sich auch 6.000 Militärangehörige, darunter über 100 Generale und Admirale, Hunderte von Polizisten und Tausende von Richtern und Wissenschaftlern.

In einem Gespräch am Montag sollen sich der türkische Präsident und der NATO-Generalsekretär über die Vorgänge ausgetauscht haben. Auch der US-amerikanische Präsident Barack Obama rief Erdogan am Dienstag auf, bei den Untersuchungen gegen die mutmaßlichen Putschisten die „Rechtstaatlichkeit zu wahren“.

Die Verhältnisse zwischen einigen NATO-Ländern und der Türkei sind seit längerem angespannt. Ende Juni hatte die türkische Regierung einer Delegation aus Berlin verboten, die deutschen Soldaten auf dem NATO-Stützpunkt Incirlik zu besuchen. Die deutsche Bundesregierung bezeichnete dies als einen „unfreundlichen Akt des NATO-Partners“.

Mit den USA bestehen seit längerem Meinungsverschiedenheiten über das weitere Vorgehen in Syrien. Zum einen macht Präsident Erdogan seinen ehemaligen Alliierten Fethullah Gülen für allerlei Unbill verantwortlich. Der Chef einer mächtigen islamistischen Polit-Sekte lebt seit 1999 in den USA und leitet von Pennsylvania aus den Marsch seiner Anhänger durch die türkischen Institutionen.

Aber besonders der Umstand, dass die US-Streitkräfte inzwischen direkt die kurdische YPG in Syrien unterstützen, führt in Ankara zu Unmut. Nachdem die AKP von Präsident Erdogan vor einem Jahr die Parlamentswahlen verlor, gehen türkische Militärs und Geheimdienstler massiv gegen die kurdische Bewegung vor. Dies umfasst auch völkerrechtswidrige Operationen auf syrischem Staatsgebiet.


In Ankara mutmaßt man, dass westliche und möglicherweise NATO-Kräfte mit dem Putsch in Verbindung stehen könnten. So hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die putschenden Militärs von Incirlik aus unterstützt wurden. Angeblich habe ein in Incirlik gestartetes Tankflugzeug die F16 der Aufständischen in der Luft aufgetankt, damit sie die ganze Nacht im Einsatz bleiben konnten.

Von dem Stützpunkt aus werden nicht nur die Operationen der NATO-Staaten in Syrien und der Türkei koordiniert. Auf Incirlik lagern auch mindestens 50 Atomwaffen, die vom US-Verteidigungsministeriums als ‚special weapons‘ geführt werden. Seit Samstag ließ die türkische Regierung die Luftwaffenbasis komplett abriegeln und schaltete den Verbündeten die externe Stromversorgung ab. Am Sonntag wurde Kommandant des Stützpunkts, General Bekir Ercan Van, festgenommen.

Bis zum heutigen Freitag scheint die externe Stromversorgung nicht wieder hergestellt zu sein. Nach letzten Meldungen läuft der gesamte Betrieb weiterhin über Stromgeneratoren. Der zuständige US-Offizier, John Walker, betonte gegenüber türkischen Medien, dass man „genug Lebensmittel und Treibstoff für die nächsten Wochen“ habe. Der türkische Verteidigungsminister Fikri Isik kündigte gestern an, dass die Stromversorgung „bald“ wiederhergestellt wird. Diese Zusage erfolgte allerdings erst nach einer Intervention seines US-Kollegen Ashton Carter.

Debatte über die Zukunft der Türkei im westlichen Bündnis

Der ehemalige Oberkommandierende der NATO, James Stavridis, appellierte inzwischen an die amerikanische Politik, die Beziehungen zur Türkei nicht zu gefährden. Auch wenn der ehemalige NATO-General seine Sympathien zu in der Türkei verhafteten Militärs deutlich durchklingen lässt, betont er doch die überragende Bedeutung des Landes für die USA. Er rät der Regierung entsprechend, Erdogan in allen Punkten entgegenzukommen. Das geht soweit, dass Stavridis die Kooperation mit den kurdischen Kräften infragestellt.
„Die höchst instabile geopolitische Situation an der Levante und die erweiterten Sicherheitsbedürfnisse der NATO erfordern eine Zusammenkommen auf der Kreuzung in der Türkei. In einer Vielzahl von Fragen - vom ‚Islamischen Staat‘ bis Syrien; Israel bis Öl und Gas im östlichen Mittelmeer; der möglichen Reaktion auf den radikalen Islam bis zur Stabilität in Ägypten - hat die Türkei eine enorme Fähigkeit, Ereignisse zu beeinflussen. Washington muss ein guter Freund sein.“
Dass sich James Stavridis überhaupt genötigt sieht, einen solchen Appell zu veröffentlichen, zeigt an, wie schlecht es um die Türkei-NATO-Beziehungen bestellt ist. Tatsächlich finden sich in der US-Presse vor allem kritische Stimmen zur Politik von Erdogan und der AKP. Am deutlichsten fiel sicher der Einwurf von Jeffrey Lewis aus, einem Spezialisten für die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen. Er argumentierte, dass die US-Atomwaffen in der Türkei „nicht länger sicher“ sind.


Dabei bezog sich Jeffrey Lewis nicht allein auf den gescheiterten Putsch, sondern auf zahlreiche Vorfälle der letzten Monate, die darauf hinweisen, dass die US-Truppen nicht mehr sicher seien. In der breiteren außenpolitischen Diskussion hatte vor allem für Aufregung gesorgt, dass der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zurücktrat. John Hudson kommentierte, dass „Amerika damit seinen Mann in Ankara“ verliere.

Spätestens seit diesem Zeitpunkt dominiert in der amerikanischen Außenpolitikdebatte eine negative Sicht auf Erdogan und die AKP. Man sieht das Land auf dem Weg in ein autoritäres islamistisches Regime, das sich stärker an den Golfstaaten orientiert als an der Europäischen Union. Bei aller Menschenrechtsrhetorik aus Brüssel in Richtung Türkei dürfe doch nicht vergessen werden, dass es überhaupt keine realistische Beitrittsperspektive für das Land gebe, erinnert etwa Benjamin Haddad in einer ausführlichen Analyse.
„Mal abgesehen davon, dass das Land dabei versagt, Dschihadisten auf dem Weg nach Syrien zu stoppen, und dass es die Flüchtlingsfrage ausnutzt, um von Europa Zugeständnisse zu erpressen, hat Ankara bisher nicht bewiesen, dass es ein verlässlicher Partner ist.“
Diese Verstimmung geht so weit, dass bereits im Frühjahr 2016 in zentralen außenpolitischen Wortmeldungen über einen Putsch von Militärs in der Türkei spekuliert wurde. Michael Rubin, Analyst für den Mittleren Osten im American Enterprise Institute dachte bereits im März laut darüber nach, dass Teile des Militärs den Gedanken verfolgen könnten, Erdogan zu stürzen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass ein solcher Putsch erfolgreich verlaufen könnte, auch weil er im Weißen Haus, in der EU und der NATO akzeptiert werden würde.

Im Mai schrieb Foreign Affairs über „Turkey's Next Military Coup“. In dem Beitrag wägt Gonul Tol nüchtern die Kräfteverhältnisse in dem Land ab. Allerdings schätzt er die Aussichten auf Erfolg deutlich geringer ein als Michael Rubin. Er kommt zu einem Szenario, in dem Erdogan breite Massenproteste gegen seine Politik blutig niederschlagen lässt. In einer solchen Situation könnte die öffentliche Aufforderung an die Generäle ergehen, die Ordnung wiederherzustellen.
„Selbst in einem solch gefährlichen und unerwünschten Szenario würden die Generäle wahrscheinlich lieber politisch eingreifen als mit militärischen Mitteln, um die Regierung zum Rücktritt zu zwingen.“
Wie auch immer: In der aufmerksamen türkischen Öffentlichkeit dürften sowohl die Militärs diese Debatte verfolgt haben als auch die AKP-Spitze. Die Spatzen haben den Putsch, sozusagen, bereits von den Dächern der NATO-Gremien gepfiffen.

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