Der versuchte Staatsstreich von Teilen des
türkischen Militärs war für Erdoğan ein „Geschenk Allahs“. Mit der
Tatsache, dass Kader der Gülen-Bewegung bei dem Putsch eine bedeutende
Rolle spielten, legitimiert er eine Säuberungswelle, mit der auch zivile
Bereiche wie die Justiz, die Medien und die Universitäten
gleichgeschaltet werden.
von Günter Seufert
Der
fehlgeschlagene Putschversuch vom 15. und 16. Juli und mehr noch die
anschließende Offensive der Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip
Erdoğan haben aus der Türkei ein anderes Land gemacht. Die politischen
Kräfteverhältnisse, aber auch die Stimmung im Land haben sich so
grundlegend verändert, dass alle bisherigen innen- und außenpolitischen
Gewissheiten außer Kraft gesetzt sind.
Was die
Innenpolitik betrifft, so steht nicht nur das parlamentarische System
infrage; auch der säkulare Charakter des Staats ist nicht mehr
garantiert. Die außerparlamentarischen Vetomächte in der Justiz, in den
Universitäten und im Militär haben nahezu jeden politischen Einfluss
verloren. Die Folge ist jedoch nicht ein Mehr an Demokratie, sondern
die Konzentration der politischen Macht in einer Person: in der des
Staatspräsidenten Erdoğan.
Außenpolitisch steht die
Westanbindung der Türkei stärker infrage als je zuvor. Das gilt nicht
nur für die EU-Kandidatur des Landes, sondern auch für die weitere
Zugehörigkeit zur Nato.
Die Putschisten töteten circa
250 Zivilisten, die ihnen mutig entgegentraten, die Zahl der Verletzten
liegt bei 1500. Sie bombardierten das Parlament, verhafteten Teile der
militärischen Führung und machten Jagd auf Staatspräsident Erdoğan.
Ihre
Machtübernahme scheiterte – erstmals in der langen Geschichte von
Staatsstreichen und Interventionen des Militärs – primär am aktiven
Widerstand der Bevölkerung und der Polizei. Erstmals wurde der Aufstand
von allen im Parlament vertretenen Parteien verurteilt, und erstmals
wurden die Putschisten sofort als Landes- und Volksverräter
identifiziert und rigoros aus der nationalen Gemeinschaft
ausgeschlossen. Doch die Chance, den spontanen antimilitärischen Reflex
der großen Mehrheit in einen alle Parteien übergreifenden Minimalkonsens
für Demokratie zu transformieren, wurde schnell vertan.
Erdoğans Ermächtigung
Schon
am zweiten Tag nach dem Putsch erteilte Erdoğan der Einbeziehung der
prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in die Front der
Demokraten, die Ministerpräsident Binali Yıldırım eigenmächtig verkündet
hatte, eine klare Absage. Danach setzte eine Säuberungswelle ein, die
jedes Maß überschreitet und offenbar noch nicht zu Ende ist. Sie geht
weit über den Personenkreis hinaus, der mit dem Putschversuch in
Verbindung gebracht werden kann.
Damit hat die
Regierung – unter Nutzung des Ausnahmezustands – ein Klima der Willkür
und Rechtlosigkeit geschaffen. Mehr als 16 000 Personen wurden
festgenommen, 9000 davon inhaftiert; mehr als 68 500 Staatsdiener
verloren ihre Posten.
Die staatliche Verfolgung
beschränkt sich keineswegs auf solche Personen beim Militär und in
zivilen Kreisen, die der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen
nahestehen, deren Kader nach offizieller Lesart den Putsch organisiert
haben.
Anhand offensichtlich seit Langem
angefertigter Listen geht die Regierung gegen alle vor, die sie für
Gefolgsleute Gülens hält. Mit dem Argument, es handele sich um
Agentennester des Predigers, hat die Regierung bis zum 3. August 35
Kliniken, 1045 Schulen, 15 Universitäten und 29 Einzelgewerkschaften
geschlossen beziehungsweise die Lizenz entzogen.
Die
Hatz auf alles, was mit Gülen in Verbindung steht, begründet die
Regierung mit der Notwendigkeit, die Rekrutierungsquellen der Bewegung
auszutrocknen. Betroffen sind jedoch auch kritische Journalisten und
Akademiker, die nicht religiös sind und mit der Gülen-Bewegung nichts zu
tun haben. Die Amtsenthebung von rund einem Fünftel aller Richter und
Staatsanwälte wirbelt das gesamte Justizsystem durcheinander. Und die
Ausstattung der Staatsanwaltschaft mit Sondervollmachten degradiert die
Rechtsprechung zum Vergeltungsinstrument der Regierung.
In Europa und in den USA sieht man die Reaktion der türkischen Regierung weniger als angemessene Antwort auf
den Putschversuch als vielmehr im Kontext von Erdoğans Bestreben, eine
autoritäre Alleinherrschaft zu etablieren. Mit seiner aggressiven und
pauschalisierenden Rhetorik verstärkt der Staatspräsident nur die
Skepsis gegenüber seiner Schuldzuweisung an die Gülen-Gemeinde, die in
130 Ländern als gemäßigt islamische Bildungsbewegung namens Hizmet
(Dienst) auftritt. Die Aufforderung an die USA, den Prediger
auszuliefern, und an europäische Länder, die Aktivitäten der
Gülen-Gemeinden auf ihrem Territorium zu verbieten, stoßen bisher auf
taube Ohren.
In der Türkei dagegen hat sich die
Ansicht, dass die Gülenisten das Gehirn und die treibende Kraft des
Putschversuchs waren, in der Öffentlichkeit und auch bei allen im
Parlament vertretenen Parteien durchgesetzt. Offenbar sehnt sich die
türkische Gesellschaft, erschöpft von der seit Jahren wachsenden
Polarisierung und den ständigen Zweifeln über die richtige Politik und
die Zukunft der Nation, nach einem klaren Bild und einfachen Antworten.
Das
Militär klagt bereits seit Mitte der 1980er Jahre über die Infiltration
seiner Reihen durch Gefolgsleute Gülens. Die regierende Gerechtigkeits-
und Entwicklungspartei (AKP) war mit dessen Gemeinde lange Zeit
verbündet, liegt mit ihr aber seit 2012 im Zwist.1
Seither dient der gemeinsame Feind als Kitt für das pragmatische
Bündnis zwischen Regierung und Militärführung. Je mehr sich beide auf
Gülen einschießen und dessen Kader für den Putsch verantwortlich machen,
desto eher sind sie in der Lage, ihr durchaus fragiles Bündnis
fortzusetzen. Schließlich hat das Militär noch 2007 mit dem Sturz der
AKP-Regierung gedroht. Und noch bis 2012 hat Erdoğan mit Hilfe der
Gülen-Leute auf die politische Entmachtung des Militärs hingearbeitet.
Damals nutzte er die Kader der Bewegung in Polizei und Justiz und deren
unlautere Machenschaften für seine eigenen Zwecke aus.
Diese
Vorgeschichte wirft zwei Fragen auf: Wie tragfähig ist die Behauptung,
dass der Putsch ausschließlich das Werk der Anhänger Gülens war? Und
muss man in Europa und den USA womöglich einen schärferen Blick auf
Gülen und sein Netzwerk werfen?
Auch mehr als drei
Wochen nach dem Putschversuch hat die Regierung in Ankara noch keinen
Anführer der Rebellion benannt. Kann sie es nicht oder will sie es
nicht? Zuletzt trat Nurettin Canikli, einer der fünf
Vizeministerpräsidenten, am 28. Juli mit der wenig überraschenden
Feststellung vor die Kamera, nach Stand der Informationen sei der
Rädelsführer ein Militär gewesen. Einen Namen nannte er nicht.
Dass
die Regierung den Reiter ohne Ross benennt, ist nicht das einzig
Rätselhafte an diesem Coup. Am 27. Juli erklärte der Generalstab, nur
8651 Angehörige der Streitkräfte seien am Putschversuch beteiligt
gewesen, darunter 1214 Studenten der Kriegsakademie, die keine Einheiten
führen.
Demnach hätten nur 1,5 Prozent der Militärangehörigen etwas mit
dem Aufstand zu tun und die Streitkräfte als Ganzes zur Regierung
gestanden. Doch zehn Stunden später ließ die Regierung verlauten, sie
habe neben 1099 niedrigeren Offizieren und 330 Unteroffizieren auch 149
Generäle und Admiräle aus der Armee entfernt. Das wären etwa 40 Prozent
der hohen Führungsränge.
Zwischen dem Bild, das der Generalstab
zeichnet, und der Bedrohungswahrnehmung der Regierung liegen
offensichtlich Welten.
Wer wusste wann Bescheid?
Die
Skepsis der Regierung dem Militär gegenüber erscheint nicht
unbegründet. Am 15. Juli will der Nationale Geheimdienst MIT um 16 Uhr
erste konkrete Aktivitäten der Putschisten registriert haben. Zwischen
17 und 18 Uhr soll der MIT den bis dahin ahnungslosen Generalstabschef
in Kenntnis gesetzt haben.2
Doch die Nachricht von dem bedrohlichen Geschehen wurde offenbar weder
an Staatspräsident Erdoğan, noch an Ministerpräsident Yıldırım
weitergeleitet. Eine merkwürdige Geschichte, wenn man bedenkt, dass
Erdoğan den MIT-Chef Hakan Fidan öffentlich als seinen engsten
Vertrauten bezeichnet hat. Und dass der Staatspräsident – wie ganz
Ankara weiß – stets noch über das kleinste Detail informiert sein will
und jede Entscheidung persönlich fällt.
Was bedeutet
es, wenn der Informationsfluss just in dem Moment stoppt, in dem es
nicht nur um den Machterhalt Erdoğans, sondern gar um sein Leben geht?
Der Präsident sagt, er sei erst gegen 20 Uhr informiert worden, und
zwar weder vom Geheimdienst noch vom Militär, sondern von seinem
Schwager, der über persönliche Verbindungen von dem Aufstand erfahren
habe.
Der plakativen Darstellung der Brüskierung des
Geheimdienstes ließ Erdoğan nur wenige Tage später seine Forderung
folgen, den Dienst in Zukunft dem Staatspräsidenten, also ihm selbst zu
unterstellen.
Auch Ministerpräsident Yıldırım hat
erst nach 21 Uhr – ebenfalls aus privaten Quellen – von dem Coup
erfahren, der schon längst im Gange war. Innenminister Efkan Ala wurde
noch später unterrichtet. Und erst eine Stunde nach Mitternacht, als
Anhänger Erdoğans sich längst auf den Straßen gegen die Panzer
gestellt hatten, meldete sich der erste hohe General zu Wort – mit der
Versicherung, der Putsch sei das Werk von Obristen und nicht der
Generalität.
Zudem stellt sich die Frage, weshalb
Geheimdienstchef Fidan über die Aktivitäten in den Reihen des Militärs
ausgerechnet den Generalstab informierte. Hätte der nicht selbst ein
Teil der Verschwörung sein können? Schließlich behauptete der
Ministerpräsident, einige Befehlshaber hätten sich in den kritischen
Stunden des Putschversuchs geweigert, seinen Anordnungen Folge zu
leisten. Kein Wunder, dass es in den Aussagen hoher Generäle eklatante
Widersprüche gibt.
Dennoch – oder vielleicht gerade
deshalb – beschwören die Spitzen von Militär und Politik gemeinsam die
absolute Alleinverantwortung Gülens und seines Netzwerks für den
gescheiterten Staatsstreich. Generalstabschef Hulusi Akar spricht von
„Terroristen, die sich Uniformen übergezogen haben“ – und rückt das
Militär damit noch weiter aus der Schusslinie.
Staatspräsident
Erdoğan meint, jetzt sehe auch der letzte Zweifler, dass es sich bei
Gülen und seinen Gefolgsleuten um eine bewaffnete Terrorgruppe handele.
Dabei traut die Regierung ihrer eigenen Analyse von der ausschließlichen
Täterschaft Gülens nur zum Teil.
Obwohl
Ministerpräsident Binali Yıldırım befriedigt feststellte, das
Gülen-Netzwerk sei jetzt ein für allemal aus der Armee vertrieben,
wappnet sich die Regierung gegen mögliche neue Schläge aus dem Militär.
Innenminister Efkan Alan kündigte die Aufrüstung der Polizei mit
schweren Waffen an und erklärte: „So tun, als wäre nichts passiert,
passt nicht zu unserer Politik.“ Der Regierungschef ging noch einen
Schritt weiter und verkündete die Schließung aller Kasernen in der Nähe
der Stadtzentren von Ankara und Istanbul. Nicht noch einmal sollen
Panzer von Putschisten ungehindert in die Städte rollen können.
Seit
der Ausrufung des Ausnahmezustands kann die Regierung überdies
Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen und damit tiefgreifende
Veränderungen im institutionellen Aufbau der Streitkräfte vornehmen. Mit
diesem Instrument zerschlägt sie den militärischen Komplex, der seit
Gründung der Republik eine Art Staat im Staate gewesen war und sich
häufig angemaßt hatte, sowohl innen- als auch außenpolitisch den Kurs zu
bestimmen.
Auf diese Weise hat die Regierung dem
Generalstab die direkte Kontrolle über die einzelnen Teilstreitkräfte
(Armee, Marine, Luftwaffe) sowie über die Gendarmerie und die
Küstenwache entzogen. Die drei Waffengattungen wurden dem
Verteidigungsminister unterstellt, die Gendarmerie und die Küstenwache
dem Innenministerium zugeschlagen. Damit ist die Regierung ab sofort in
der Lage, den Teilstreitkräften direkt militärische Order zu erteilen.
Der Generalstab verliert zudem die Kontrolle über die Ausbildung des
militärischen Nachwuchses. Die Militärgymnasien werden geschlossen, die
Kriegsakademie soll durch eine neue Universität für nationale
Verteidigung ersetzt werden. Das bedeutet, dass die Kadetten künftig
nicht mehr im strikt säkular-kemalistischen Geist erzogen werden.
Der
Generalstab selbst soll künftig nicht mehr der Regierung, sondern dem
Staatspräsidenten, also Erdoğan, rechenschaftspflichtig sein. Das
Gegenüber der hohen Generäle ist dann nicht mehr ein politisch meist
schwacher Verteidigungsminister, sondern die dominierende Figur des
Präsidenten. Besonders bedeutsam ist, dass dem Generalstab die
Befehlsgewalt über die Gendarmerie entzogen worden ist, die
Polizeiaufgaben wahrnimmt und einen eigenen Geheimdienst unterhält.
Damit ist dem Militär sein effektivstes Instrument zur innenpolitischen
Kontrolle aus der Hand genommen.
In der Summe
bedeutet all dies die Auflösung des vormals fast autarken militärischen
Komplexes und die vollständige Unterordnung des Militärs unter die
Regierung – also praktisch unter Recep Tayyip Erdoğan. So sehr die
Regierung das Militär als Ganzes von öffentlicher Kritik verschont,
indem sie alle Schuld auf Gülen schiebt, so gründlich liquidiert sie das
Eigenleben der „militärischen Klasse“. Ein in der türkischen Republik
bislang einmaliger und unerhörter Schritt.
Dieser
Coup gegen das Militär, als Antwort auf den militärischen Putsch, kommt
auf den ersten Blick doch überraschend. Denn die Regierung war in den
letzten Monaten im Innern wie in ihrer Außenpolitik klar auf die
traditionelle, kemalistische Linie zurückgeschwenkt. Das gilt etwa für
die Kurdenfrage, in der sie erneut auf eine militärische Lösung setzt.
Zudem wurde den Soldaten per Gesetzesänderung eine weitreichende straf-
und zivilrechtliche Immunität für Vergehen und Verbrechen im Amt
gewährt. Und in der Außenpolitik entspricht sowohl die erneute
Annäherung an Israel als auch der Ausgleich mit Russland den
Vorstellungen der Generäle.
Auf der anderen Seite ist
die Regierung seit geraumer Zeit dabei, die finanziellen Privilegien
der Offiziere zu beschneiden. In den letzten Jahren hat sie das
faktische Monopol von Rüstungs- und Ausrüstungsfirmen zerschlagen, in
denen pensionierte Generäle über leitende Posten und damit über
lukrative Einkommen verfügen. Diese Unternehmen – formell im Besitz
halbstaatlicher Stiftungen – sind vermehrt der Konkurrenz privater
Firmen ausgesetzt; zudem droht ihnen auf mittlere Sicht eine
Teilprivatisierung.
Einen
Frontalangriff auf die ökonomischen Interessen des Militärs unternahm
die Regierung im Mai 2016 mit ihrer Intervention bei OYAK. Dieser
schwerreiche Pensionsfonds des Militärs wurde 1961 nach dem ersten
Staatsstreich von 1960 gegründet. In den letzten anderthalb Jahrzehnten
hat er sich zu einer international aktiven Holding mit nahezu 30 000
Beschäftigten entwickelt, die zu den vier größten Konglomeraten der
Türkei zählt. Dank der Profite dieser Holding kann OYAK einem
4-Sterne-General nach 40 Jahren Dienstzeit eine Abfindung von
250 000 US-Dollar auszahlen.
Was hat das Militär zu verlieren?
Ende
Mai nun zwang die AKP-Regierung die meisten Vorstandsmitglieder des
OYAK zum Rücktritt und ersetzte den Vorsitzenden durch einen Vertrauten
Erdoğans. Dass der neue Chef keinerlei unternehmerische Erfahrung hat,
nährt die Vermutung, der OYAK solle zerschlagen werden – was das
Militär schwächen und regierungsnahe Firmen begünstigen würde. Was in
diesem Fall mit den Einlagen von mehr als 300 000 Offizieren geschehen
soll, ist vorerst offen.
Die
radikale Antwort der Regierung auf den Putschversuch ist deshalb
keinesfalls eine überstürzte und wenig durchdachte Reaktion auf den
versuchten Staatsstreich. Viel eher erscheint sie als vorläufiger
Endpunkt einer lang angelegten Strategie zur Entmachtung des Militärs,
die jetzt entschlossen vorgezogen wird. Der Ausspruch Erdoğans, der
Putschversuch sei ein „Geschenk Allahs“, gewinnt vor diesem Hintergrund
einen völlig neuen Sinn.
Daraus folgt, dass es in den
Augen türkischer Offiziere handfeste Gründe geben konnte, sich den
Putschisten anzuschließen – nämlich die Rettung finanzieller,
politischer und und institutioneller Privilegien; ganz abgesehen von der
traditionellen Opposition der Offiziere gegen die Islamisierungspolitik
der AKP und dem im Militär fest verankerten Putschreflex.
Welchen
Anteil einzelne Gruppen innerhalb des Militärs an der Planung und
Durchführung des Staatsstreichs tatsächlich hatten, ist nach heutigem
Kenntnisstand von außen nicht genau zu ermessen. Welche Rolle spielten
dabei Anhänger Fethullah Gülens, hartgesottene Kemalisten, bloße
Karrieristen oder Offiziere, die in der Tradition des türkischen
Militärs aus „Sorge um das Land“ gehandelt haben?
Auch Experten, die Angehörige all dieser Gruppen beteiligt sehen, sprechen dem Gülen-Netzwerk die Führungsrolle zu.5
Sie verweisen auf den Zeitpunkt des Unternehmens, das offensichtlich
überhastet losgetreten wurde: nur einen Tag nach der Festnahme dreier
Offiziere in Izmir, denen Spionage für Gülen vorgeworfen wurde, was –
zu Recht – als Zeichen für unmittelbar bevorstehende Säuberungen im
Militär verstanden werden musste.
Regierungsnahe
Zeitungen hatten bereits drei Tage vor dem Putsch von einer anstehenden
Operation gegen Gülenisten im Militär berichtet. Die Rede war von 600
bis 1000 Personen, denen eine Strafverfolgung und die Entlassung aus der
Armee gedroht haben soll. Nach dem Putsch hieß es, der Staatsstreich
habe eigentlich erst im Zeitraum September/Oktober stattfinden sollen,
sei aber wegen der aktuellen Gefährdung vorgezogen worden.
Die
Darstellung klingt plausibel, lässt aber Fragen offen. Wenn die
Regierung von 600 bis 1000 Mitgliedern des Netzwerks im Militär ausging,
was waren dann die Motive der weiteren 7000 Soldaten und Offiziere, die
nach Angabe des Generalstabs am Putsch teilgenommen haben? Und wenn das
Unternehmen tatsächlich eilig vorgezogen worden ist, um Gülenisten im
Militär vor der Festnahme zu schützen, was war dann das ursprüngliche
Ziel des für später geplanten Putsches?
Als handfeste
Beweise für die führende Rolle des Gülen-Netzwerks wird auf einzelne
Geständnisse von Putschisten verwiesen. Doch bis zum 4. August lagen
trotz der Verhaftung tausender Soldaten nur fünf Geständnisse von
Mitgliedern des Netzwerks vor. Der junge Offizier, der sich am stärksten
selbst belastet hat, zeigt Spuren schwerer Folter.
Ein
Beleg für die Putschbeteiligung von Gülenisten ist die Festnahme des
früheren Chefs der Sicherheitsabteilung der Istanbuler Polizei, der als
Gefolgsmann Gülens entlassen worden war. Er kroch in Zivilkleidung aus
einem Panzerfahrzeug der Putschisten.
Gesichert ist
jedenfalls, dass ein Netzwerk von Gülenisten innerhalb des Militärs
existierte. Schaut man auf die Dienstgrade, zeigt sich eine
unverhältnismäßig große Zahl von Offizieren im Rang eines
Brigadegenerals (oder Generalmajors), die am Putsch beteiligt war. Viele
von ihnen waren in den letzten Jahren auf Stellen befördert worden, die
frei geworden waren, nachdem die früheren Inhaber in den sogenannten
Ergenekon-Prozessen verurteilt worden waren. Bei diesen Prozessen hatten
Polizisten, Richter und Staatsanwälte der Gülen-Bewegung eine
entscheidende Rolle gespielt. Das begründet die Vermutung, dass auf
diese Weise Offiziersstellen für die Mitglieder des Netzwerks frei
gemacht worden sind.
Wahrscheinlich hat das
Gülen-Netzwerk tatsächlich eine entscheidende Rolle beim Putschversuch
vom 15. Juli gespielt, dessen Zeitpunkt wohl von der aktuellen Bedrohung
dieser Gruppe durch bevorstehende Säuberungen beeinflusst wurde. Doch
offensichtlich konnte sich eine große Anzahl von Offizieren der zweiten
und dritten Führungsebene lange nicht entscheiden, ob sie sich an diesem
Putschversuch beteiligen sollte oder nicht.
Das
wäre eine plausible Erklärung für das lange Schweigen der Generäle und
ihre höchst widersprüchlichen Aussagen, aber auch für die hohe Zahl der
nach dem Putsch entlassenen Generäle und für das Misstrauen der
Regierung gegenüber dem Militär als Ganzem.
In Europa
und den USA muss man zur Kenntnis nehmen, dass die hier bekannte zivile
Seite der Gülen-Bewegung nicht die ganze Wahrheit ist. Ihre Kader in
Polizei und Justiz hatten sich bereits im Laufe der Ergenekon-Prozesse
gegen hohe Militärs geoutet. Der Putsch hat nun bestätigt, dass die
Bewegung auch im Militär über handlungsfähige Kräfte verfügte.
Allerdings
besteht die Gülen-Bewegung eben nicht nur aus klandestinen Kadern in
der Bürokratie. Vor ihrem Zwist mit der AKP war sie die größte
zivilgesellschaftliche Organisation des türkischen Islam, die viele Züge
einer Graswurzelbewegung trug. Es gibt nur wenige Personen im
konservativen Spektrum, die nicht irgendwann und irgendwo Kontakt mit
der Bewegung hatten: mit ihren Schulen, Repetitorien, Medien, Vereinen
oder Unternehmen – und sei es über Freunde oder Verwandte. Potenziell
ist deshalb heute jeder verdächtig. Und selbst unter den Wählern der AKP
breiten sich angesichts der Säuberungen Angst und Unsicherheit aus.
Deshalb
stellt der weitere Umgang mit dem Netzwerk für die Regierung eine große
Herausforderung dar. Natürlich passt es Erdoğan heute ins Konzept,
die Bewegung pauschal als Terroristennetzwerk darzustellen und gnadenlos
zu verfolgen. Diese Strategie dient als Rechtfertigung, die Bürokratie
zu säubern und mit eigenen Anhängern zu besetzen. Und sie ermöglicht es
außerdem, alle möglichen Kritiker mundtot zu machen.
Doch
wenn die AKP vermeiden will, zu viel Unruhe in die eigenen Reihen zu
tragen, wird sie sich mit den Leuten, die im zivilen Bereich der
Bewegung tätig sind, früher oder später arrangieren müssen. Nicht jedoch
mit Fethullah Gülen.
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