EU-Spitzengipfel auf dem 'Traumschiff': Symbolpolitik oder wirklicher Neustart der EU?

Am Montag trafen sich Merkel, Hollande und Renzi zunächst auf der italienischen Insel Ventotene, dann auf dem italenischen Flugzeugträger "Garibaldi".
 Am Montag trafen sich Merkel, Hollande und Renzi zunächst auf der italienischen Insel Ventotene, dann auf dem italenischen Flugzeugträger "Garibaldi".
 
Merkel, Hollande und Renzi haben sich getroffen, um den Fliehkräften in der EU entgegenzuwirken. Das Fazit: medienwirksame Bilder, frustrierte Journalisten und wenig Konkretes. Indessen diskutieren Experten, wie sich die EU noch tiefer in das von ihr selbst verursachte Schlamassel in den Regionen östlich und südlich von Europa verstricken kann. 
 
von Dennis Simon


Seit dem Brexit herrscht in der EU große Verzweiflung. Die euphorische Stimmung der 1990er verflog schnell. Schon die gescheiterten Referenden zur EU-Verfassung vor über zehn Jahren offenbarten eine zunehmende Entfremdung der EU-Eliten von den Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten. Mit der Eurokrise kam zu der politischen Krise noch eine wirtschaftliche dazu. Die desaströse Reaktion der EU-Staaten auf die Eurokrise katapultierte wirtschaftlich und sozial weite Teile Südeuropas Jahrzehnte zurück. Trotzdem ignorierten Brüssel und die Regierungen der EU-Staaten weitgehend die gärende Stimmung.

Auch auf der internationalen Bühne geriet die EU in den letzten Jahren zunehmend unter Druck. Der Aufstieg Chinas, die verstärkten diplomatischen Initiativen Russlands sowie der steigende Einfluss einer Reihe wichtiger Schwellenländer führten zur relativen Abnahme des globalen Machtpotentials der EU. Die mittlerweile legendäre, abschätzige Bemerkung der US-Europabeauftragten Victoria Nuland über den europäischen Staatenbund („Fuck the EU“) zu Beginn der Ukraine-Krise illustriert dies. Mehrere Konfliktherde an der Peripherie des EU-Gebietes bedrohen die regionale Stabilität.

Die neoliberale EU-Politik begünstigte Armut im gesamten Unionsgebiet und entfremdete die Bürger vom Staatenbund.
Die neoliberale EU-Politik begünstigte Armut im gesamten Unionsgebiet und entfremdete die Bürger vom Staatenbund.

Die Entscheidung der britischen Bevölkerung zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, der heiligen Kuh europäischer Eliten in der Zeit nach dem Kalten Krieg, riss die Spitzen der EU-Staaten aus ihrem Dornröschenschlaf und zwang sie, sich endlich mit den seit Jahren zuspitzenden Widersprüchen innerhalb der EU zu befassen.

Das Spitzentreffen der Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Italien, das am Montag auf der italienischen Insel Ventotene und einem italienischen Flugzeugträger stattfand, ist Teil der Kampagne, die EU aus ihrem komatösen Zustand wiederzuerwecken.

Kernthemen des Gipfels waren die Sicherheits-, Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik der EU. Jeder der drei Regierungschefs setzte eigene Akzente. Der französische Präsident François Hollande konzentrierte sich vor dem Hintergrund der Anschlagsserie des IS in Frankreich auf die EU-Verteidigungs- und Sicherheitspolitik:

Finanzinvestor George Soros vor einer Rede im
„Wenn es einen Punkt gibt, bei dem wir uns unbedingt einig sein müssen, dann, dass Europa seine eigene Sicherheit gewährleisten muss.“
Er forderte eine stärkere Kooperation der EU-Staaten im Kampf gegen den Terrorismus.
Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi dagegen wünschte sich vor allem Veränderungen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, etwa lockerere Regelungen für die Staatshaushalte der EU-Mitglieder:
„Wir brauchen besonders vor dem Hintergrund des Brexit starke Maßnahmen für mehr Wachstum, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Investitionen, die Qualität haben, begleitet von Strukturreformen“, betonte Renzi.
Auch an die Jugend Europas wandte sich der italienische Regierungschef und Gastgeber des Spitzentreffens:
„Europa ist nicht das Problem – Europa ist die Lösung. Vor allem für die junge Generation.“
Wie die Jugendlichen Südeuropas, die dank der EU-Austeritätspolitik unter extrem hoher Arbeitslosigkeit leiden, diese Botschaft aufnehmen werden, bleibt abzuwarten.

Will Alianz gegen Austerität: Griechenlands Premier Alexis Tsipras.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wich diesen Forderungen aus und hob die Bedeutung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit für die EU hervor:
„Wir wollen, dass Italien, dass Frankreich und Deutschland wachsen. Und zwar so wachsen, dass zukünftige Arbeitsplätze entstehen. Und das bedeutet für mich auch, dass wir Bedingungen schaffen müssen, in denen private Investitionen eine Zukunft haben.“
Viel mehr Konkretes, wie die EU denn nun zu retten sei, konnten die 150 eingeschifften Journalisten vom EU-Trio nicht erfahren. Die italienische Presse bezeichnete das PR-Event wegen der miserablen Arbeitsbedingungen der Journalisten sogar als „unnütze Kreuzfahrt“.

Wenigstens gab es genügend Gelegenheiten, eindrucksvolle Aufnahmen mit starkem Symbolcharakter zu machen: etwa am Grab des italienischen Antifaschisten und Vordenkers des europäischen Staatenbundes Altiero Spinelli auf der Insel Ventotene. Ihm schwebte allerdings eine freie, demokratisch-sozialistische Union und kein bürokratisch-kapitalistisches Monstrum vor. Die europäischen Spitzenpolitiker legten kleine Blumensträuße an seinem Grab nieder. Auch später während der Pressekonferenz auf dem italienischen Flugzeugträger „Garibaldi“ konnten die Journalisten ein Fotoshooting durchführen.

Heile Welt auf dem Traumschiff.
Heile Welt auf dem Traumschiff.

Was bezweckten wohl die drei europäischen Führer mit ihrer martialisch anmutenden Ortswahl für die Pressekonferenz? Das Bild des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush auf einem Flugzeugträger nach dem Irak-Krieg, mit der Aufschrift „Mission accomplished“ („Mission erfüllt“) im Hintergrund, dürfte vielen noch bekannt sein.

Sollen die über das Mittelmeer nach Europa flüchtenden Menschen abgeschreckt werden? Oder wollten die EU-Granden die ihnen unliebsamen Regierungen der Staaten an der europäischen Peripherie beeindrucken?

Derweil diskutieren Experten laut einem Bericht des Nachrichtenportals „Euractiv.com“ darüber, ob und wie die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) neu ausgerichtet werden sollte.

Die EU führte nach der Osterweiterung im Jahr 2004 die ENP ein, um die Beziehungen zu den Nicht-EU-Ländern östlich und südlich des Unionsgebietes zu regeln und sie, auch ohne Vollmitgliedschaft, an die EU-Machtsphäre zu binden.


Brüssel unterzog bereits im letzten Jahr die ENP einer Generalrevision, da die veränderten Umstände im nahen Ausland dies erforderlich gemacht hatten. Die Europäische Kommission empfahl damals allerdings, die ENP nicht grundlegend zu verändern. Sie verkündete, mehr auf die Bedürfnisse der Partnerstaaten eingehen zu wollen. Die ENP solle weniger in die Breite, dafür mehr in die Tiefe gehen. Brüssel empfahl zudem, die Mitgliedsstaaten mehr an der ENP zu beteiligen.

Hauptziel der nächsten drei bis fünf Jahre sei, die an Europa angrenzenden Regionen zu stabilisieren.
„Konflikte, aufsteigender Extremismus und Terrorismus, Menschenrechtsverletzungen und andere Herausforderungen des internationalen Rechts, sowie wirtschaftliche Verwerfungen haben zu großen Flüchtlingsströmen geführt.
Im Osten resultierte eine zunehmend energischere russische Außenpolitik in der Verletzung der ukrainischen Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität. Andauernde Konflikte behindern weiterhin die Entwicklung in der Region“, konstatierte die EU in einem Positionspapier im November 2015.
Dass die direkte und indirekte Intervention der EU-Staaten in Ländern wie der Ukraine, Syrien und Libyen einer der Hauptgründe für die „andauernden Konflikte“ ist, verschweigen die Brüsseler Bürokraten lieber. Solange es die bösen Russen und Muslime gibt, kann man getrost von den eigenen Fehlern ablenken.

Die westliche Intervention befeuerte das Chaos in Libyen.
Die westliche Intervention befeuerte das Chaos in Libyen. 
 

Angesichts komplexer geopolitischer Krisen empfahlen „Euractiv.com“ zufolge Experten, die an einem von der Bertelsmann Stiftung organisierten Treffen teilnahmen, nun, die ENP fundamental neu auszurichten. Die EU solle sich noch mehr in die inneren Entwicklungen der Anrainerstaaten einmischen, um Krisentendenzen frühzeitig erkennen (und offensichtlich auch gegebenenfalls in diese eingreifen) zu können.
„Was ein Ring der Freunde um Europa werden sollte, wurde zu einem Ring des Feuers“ sagte Wolfgang Schüssel, ehemaliger österreichischer Bundeskanzler, der auch am Treffen teilnahm.
Die in Salzburg versammelten Experten plädierten für eine flexiblere Strategie. Die EU solle nicht nur im wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bereich Kooperation mit den Partnerländern anstreben, sondern auch im kulturellen und Bildungsbereich. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Medien sowie privatwirtschaftliche Unternehmen sollen stärken in die ENP eingebunden werden.

Diese Schlagwörter deuten darauf, dass die Bertelsmann-Experten statt einer überwiegend staatlichen Interventionspolitik eine Art alle gesellschaftliche Bereiche umfassende „totale Einmischung“ in die Angelegenheiten der Nachbarstaaten anstreben. Die Denkfabrik-Koryphäen übersehen allerdings, dass die meisten Probleme der südlichen und östlichen Grenzregionen Europas maßgeblich durch die westlichen Eingriffe verursacht wurden.

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