Gerrit Wustmann
Die türkische Armee führt Krieg gegen die Kurden, auch in Syrien - weil ein kurdischer Staat heute greifbarer ist als je zuvor.
Der Mai 2016 markierte das
hundertjährige Jubiläum eines Ereignisses, das als der Kardinalfehler
westlicher Politik im Nahen Osten bis heute gelten kann: Die teils
willkürliche, teils an ökonomisch-geostrategischen Interessen
orientierte Neuordnung Mesopotamiens im Syces-Picot-Abkommen. Durch die
Einteilung in kolonialistische Interessenssphären und neue Grenzen
entstanden nach und nach die Staaten, die wir heute kennen: Syrien,
Irak, Jordanien, Libanon, Kuwait; das Osmanische Reich war besiegt,
Südostanatolien unter französischer und teils russischer Besatzung.
Mittendrin: das kurdische Siedlungsgebiet in der Grenzregion, in der
heute die Türkei, Syrien, Irak und Iran aufeinandertreffen. Ein
kurdischer Staat wäre schon damals zumindest denkbar gewesen, doch die
Interessenlage war eine andere - ebenso wie hundert Jahre später. Dabei
ist ein autonomes Kurdistan heute näher denn je.
Nach dem Mai 1916 gab es zwar mehrfach kleinere Versuche
zum Aufbau autonomer kurdischer Enklaven, doch die Versuche wurden
immer wieder zerschlagen. Die Lage der Kurden in der kemalistischen
Türkei, unter dem iranischen Shah-Regime ebenso wie in der Islamischen
Republik, im Irak und in Syrien unter den Baathisten, war in erster
Linie durch Repression geprägt und oft durch eine gänzliche Negierung
der kurdischen Kultur, etwa indem Atatürk sie genauso wenig anerkannte
wie andere Minderheiten und gar ihre Sprache verbot.
Massenmorde wie das Dersim-Massaker von 1938 und der
Giftgas-Angriff durch Saddam-Truppen auf Halabja 1988 forderten
Zehntausende Todesopfer. Jedes kurdische Aufbegehren wurde vor den Augen
der Weltöffentlichkeit mit blanker Gewalt niedergeschlagen - über
Jahrzehnte hinweg.
Flagge der Syrisch-Demokratischen Streitkräfte
Und wie das so ist: Die Autonomiebestrebungen wurden
durch die allgegenwärtige Unterdrückung nur weiter befeuert. So
erlangten die irakischen Kurden im Jahr 1970 mit der Teilautonomie im
Nordirak einen ersten zaghaften Erfolg. Doch bis zur Gründung der
Autonomen Region Kurdistan und der gänzlichen Anerkennung sollten
Jahrzehnte vergehen. Erst 2005 war es so weit, und das obwohl der erst
seit Kurzem amtierende damalige irakische Staatspräsident Djalal
Talabani, selbst Kurde, und Mesud Barzani, gewählter Präsident der
Kurden in Erbil, sich noch wenige Jahre zuvor bekriegt hatten.
Fakt ist auch: Der bewaffnete Kampf, die Terroranschläge
nach der Gründung der PKK in den Siebzigern in der Türkei - all das hat
der kurdischen Bewegung in erster Linie Schaden zugefügt, aber keinen
Nutzen gebracht. Die Wut ist nachvollziehbar, aber die Idee der PKK und
ihrer Schwesterorganisationen, mit blanker Gewalt einen "revolutionären
Kampf" zum Erfolg führen zu wollen, war von der ersten Sekunde an
bestenfalls naiv.
Und der absurde Führerkult um Abdullah Öcalan, der von
ihm selbst mal angeheizt, mal relativiert wurde, nimmt sich nicht viel
im Vergleich zum Atatürk- oder Erdogan-Kult. In allen Fällen wird ein
einzelner Mensch (alle oft und gerne als "Führer" tituliert) zum
prophetischen Allheiler stilisiert. Mit Heilsbotschaften und Überhöhung
lässt sich keine vernünftige Politik machen. Mit überholten Ideologien
ebenso wenig.
Der Krieg gegen die Daesh-Extremisten ist vielleicht das
erste Mal seit vierzig Jahren, dass die bewaffneten kurdischen
Gruppierungen einen sinnvollen Kampf kämpfen, nicht nur im eigenen
Sinne, sondern auch im Sinne jener, die es mit Bauchschmerzen sehen,
wenn große Player der Globalpolitik glauben, den IS vielleicht doch noch
als Schachfigur brauchen zu können - denn das ist nicht Naivität,
sondern Wahnsinn.
Auch die Uneinigkeit der Kurden ist Teil des Problems
Doch die Lage ist kompliziert, und gerade das Gezerre um
Rojava zeigt, wie wenig angebracht es ist, die kurdische Bewegung
kritiklos zu idealisieren. Die Grundidee von Rojava - ein
basisdemokratisches, die Menschenrechte achtendes kurdisches
Autonomiegebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze - klingt gut. Aber
die Region ist zersplittert in Einflussgebiete, und dass viele der
arabischen Einwohner eher wenig begeistert sind von der Idee, kurdisch
regiert zu werden, war absehbar.
So trübte sich die Freude über die Befreiung der Stadt Manbidj vom IS, als durchsickerte,
dass die SDF-Truppen selbst mit ihren Kritikern nicht sonderlich
demokratisch verfahren. Aber wundert das? Dass die Kurden im
zerfallenden syrischen Staat früher oder später ihre Chance ergreifen
würden, war ebenso absehbar.
Denn eine Weile lang sah es für sie tatsächlich ganz gut
aus: die stabile Autonomieregion im Nordirak, der andauernde
Friedensprozess in der Türkei, das Machtvakuum in Syrien. Blieben nur
noch die iranischen Kurden, die von Teheran mit aller Macht
kleingehalten wurden. Aber auch sie konnten sich ausrechnen, dass sich
ihre Lage bessern würde, wenn die Projekte in den anderen Ländern weiter
fortschreiten würden.
Aber es sind nicht nur westliche Machtinteressen und die
Ablehnung der nahöstlichen Regime, die den Erfolg bislang verhindert
haben, sondern auch die Tatsache, dass die Kurden untereinander
zerstritten sind. Die PKK und ihre Ableger in allen vier Ländern als
einen einheitlichen Block zu verstehen, ist verkürzt. Die Bewegung
leidet - wie alle linken Bewegungen - am Sektierertum zahlloser
Splittergruppen, die ihre jeweilige Ideologie-Variante für die einzig
richtige halten. Was den Großteil eint, ist die Anbetung Öcalans, aber
das hilft im Detail auch nicht weiter. Erst recht nicht, wenn man
bedenkt, dass die Schnittmengen zwischen Peschmerga und PKK eher gering
sind, um es mal vorsichtig auszudrücken.
Auch in Friedenszeiten und auch, wenn sich alle
beteiligten Länder einigen könnten, den Kurden Autonomie zuzugestehen,
würden sich die innerkurdischen Verhandlungen wahrscheinlich über Jahre
hinziehen, bevor es zu einem Konsens käme. Andererseits könnte ein
Minimalkonsens schon genügen, wenn er sich an basisdemokratischen Werten
orientiert.
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