«Mehr Freiheit» mit der Billion der Zweiten Säule

Weil Pensionskassenmitglieder keine Wahl haben, sind sie auf strenge Vorgaben des Bundes angewiesen © conviva-plus
Weil Pensionskassenmitglieder keine Wahl haben, sind sie auf strenge Vorgaben des Bundes angewiesen
 
Urs P. Gasche 

Vor lauter Rufen nach «Freiheit» und Kritik an «Regulierungswut» vergisst die NZZ die fundamentale Wahlfreiheit der Angestellten.
NZZ-Wirtschaftsredaktor Werner Enz attackiert die «Regulierungswut» des Bundesamts für Sozialversicherungen des Departements von Bundesrat Alain Berset. Im Titel seines Kommentars fordert der NZZ-Redaktor «Mehr Freiheit im Vorsorgesparen».

Die Versicherer sollen möglichst viele Freiheiten haben, wie sie die Milliarden anlegen und daran verdienen. Die Lohnabhängigen aber, welche für ihre Renten einzahlen, dürfen nicht frei wählen, welcher Kasse sie sich anschliessen möchten. Dabei haben Vergleiche gezeigt, dass einige Pensionskassen oder Sammelstiftungen fünfmal mehr Geld für die Verwaltung abzwacken als andere. Pro Lohnbezüger und Jahr schwanken die jährlichen Verwaltungskosten zwischen 200 und 1000 Franken. 

Fast jeder siebte Franken für Anlage- und Verwaltungskosten
Nach Angaben des ehemaligen Preisüberwachers Rudolf Strahm flossen im Jahr 2013 Vermögensverwaltungskosten von insgesamt 3,3 Milliarden Franken an Vermögensverwalter, Berater, Banken, Anlage- und Hedgefonds. Dazu seien weitere 0,9 Milliarden an «allgemeinen Verwaltungskosten» gekommen. Strahms Fazit: Pro sieben Franken ausbezahlten Renten und Kapitalleistungen «‹versickert› fast ein Franken in der Kostenfalle».

Weitere grosse Unterschiede gibt es im Ertrag der Geldanlagen. Doch die Einzahlenden sind dazu verknurrt, sich der Firmen-Pensionskasse, Sammelstiftungen oder Gemeinschaftseinrichtungen ihrer Arbeitgebenden anzuschliessen und jedesmal die Pensionskasse zwangsweise zu wechseln, wenn sie eine neue Stelle antreten.

Solange die Renten-Einzahlenden den Pensionskassen ausgeliefert sind und keine freie Wahl haben, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die Finanzbranche aus ihren ersparten und blockierten Geldern nicht möglichst viele Gebühren abzweigt und die Milliarden nicht in ihrem eigenen Interesse anlegt oder damit spekuliert. Deshalb braucht es auch für den überobligatorischen Teil der Pensionskassen strenge Vorschriften des Staates. 

NZZ-Wirtschaftsredaktor Werner Enz aber meint, man könne «nur den Kopf schütteln», wenn Bundesrat Berset «die Zahl der zulässigen Anlagestrategien auf höchstens drei begrenzen möchte». Enz fordert: «Ausserhalb des BVG-Obligatoriums sollte jeder selbst entscheiden können, wie er sein für die Altersvorsorge abgezweigtes Geld investiert.» 

Mit «jeder» meint Enz offensichtlich nicht die Prämienzahlenden, sondern die Pensionskassen und Sammelstiftungen, denn wie sollen die Prämienzahlenden frei entscheiden können, wenn sie auf Gedeih und Verderb vom Reglement der jeweiligen Kasse abhängig sind, mit welcher der Arbeitgeber zusammenarbeitet, und wenn sie bei jedem Stellenwechsel zwangsweise zu einer neuen wechseln müssen? Da schüttelt sich tatsächlich der Kopf.

Über Billion Franken Vermögen
Bei der Zweiten Säule prallen gewaltige Interessen aufeinander. Das von Pensionskasseneinrichtungen und Privatversicherern verwaltete Vermögen der vielen Pensionskasseneinrichtungen wird Ende Jahr die enorme Summe von einer Billion Franken erreichen (1000 Milliarden). Das schätzt der langjährige Pensionskassenexperte Heiner C. Hug. Entsprechend ist das obligatorische und überobligatorische Sparen der Zweiten Säule für Banken und Versicherungen ein äusserst lukratives Geschäft. 

Die Höhe der Renten hängt ab von
  • der realen Verzinsung des einbezahlten Kapitals,
  • von der Anlagepolitik der Kassen und Versicherungen,
  • von der Höhe des Prämienanteils für die Risiken Tod und Invalidität sowie
  • von den Spesen und Kommissionen, welche die Branche kassiert.
Ein Sicherheitsfonds deckt den obligatorischen Teil der Pensionskassen bis zu einem Betrag von 127'000 Franken. Der Staat schreibt vor, dass mit dem obligatorischen Teil nicht spekuliert werden darf. Das Geld muss konservativ angelegt werden. Auch den Umwandlungssatz schreibt der Staat vor. Der gegenwärtige Satz von 6,8 Prozent führt zu einer lebenslänglichen Jahresrente von 6800 Franken pro 100'000 Franken angehäuftes Vorsorgekapital.

Der Reformvorschlag des Bundesrats mit dem Namen «Altersvorsorge 2020» sieht vor, den Mindestumwandlungssatz des BVG-Obligatoriums innert vier Jahren von 6,8 auf 6 Prozent zu senken. Viele Kassen kompensieren den relativen hohen Umwandlungssatz des obligatorischen Teils mit tiefen Umwandlungssätzen im überobligatorischen Teil der Sparguthaben.

Spekulieren mit dem überobligatorischen Kapital
Auch für das überobligatorische Kapital, das die Summe des obligatorischen von 127'000 Franken pro Arbeitnehmer übersteigt, braucht es Anlageregeln, die der Staat erlässt, damit die Versicherten ihr Kapital nicht mit Spekulationsgeschäften verlieren. Bundesrat Bersets Amt für Sozialversicherungen ist daran, in einer Verordnung neue Vorschriften zu erlassen. Das ärgert NZZ-Wirtschaftsredaktor Werner Enz: «Soll der Arm des Gesetzgebers einfach so über gesetzte Marken hinausgreifen?» Unter «gesetzten Marken» versteht Enz den obligatorischen Teil der Pensionskassen.

Freie Wahl für Einzahlende – Aufnahmezwang für Versicherungen
Bei den Krankenkassen wird die freie Wahl häufig in Frage gestellt, weil alle Kassen in der Grundversicherung exakt die gleichen Leistungen erbringen müssen. Anders bei den Pensionskassen: Die Leistungen, von denen die späteren Renten abhängen, sind sehr unterschiedlich. Deshalb macht eine freie Wahl der Pensionskasse oder Sammelstiftung mehr Sinn als bei den Krankenkassen. Doch wie bei den Krankenkassen müsste der Staat die Pensionskassen zwingen, alle Lohnbezüger auf Antrag bei sich aufzunehmen. Sonst bestünde die Gefahr des Rosinenpickens.

Für den überobligatorischen Teil der Pensionskassen schlug CVP-Nationalrätin Kathy Riklin schon vor zehn Jahren die freie Wahl vor. Heute seien die Versicherten gleich doppelt im System gefangen: Erstens seien sie der Anlagestrategie der Pensionskassen ausgeliefert, und zweitens ihren Arbeitgebern, welche die Zweite Säule häufig für ihre Zwecke einspannen würden. Der Kanton Zürich zum Beispiel hatte die Beiträge gesenkt, um die Kantonsfinanzen zu sanieren. «Die freie Kassenwahl würde die Versicherten aus solchen Abhängigkeiten befreien», meinte Riklin. 

Mitentscheiden, was mit der Macht der Milliarden passiert
Eine freie Wahl würde diejenigen Pensionskassen, Sammelstiftungen und Gemeinschaftseinrichtungen bevorteilen, welche im Interesse der Versicherten gut arbeiten. Die Verwalter von Pensionskassenmilliarden müssten Rechenschaft darüber ablegen, wie sie ihre zum Teil bedeutende Stimmkraft an Aktionärsversammlungen ausüben. In ihren Reglementen wäre festgelegt, ob auch in die Rüstungsindustrie und andere fragwürdige Konzerne investiert wird oder nicht.

Heute können die Versicherten bei der Anlage- und Stimmrechtspolitik ihrer Pensionskassen kaum mitreden und müssen bei Stellenwechseln zwangsweise zu einer neuen Kasse wechseln.

Gegen eine freie Wahl der Pensionskasse wenigstens für den überobligatorischen Teil wehren sich die meisten Pensionskassen und Sammelstiftungen, da sie Transparenz, Vergleiche der Leistungen und Vorteile für die Besten fürchten.

Weiter wird, zum Beispiel von Vorsorgeberatern von «Pricewaterhouse Coopers» PwC, argumentiert, die Versicherten und deren Vertreter wären bei der Wahl von Pensionskassen überfordert. Mit dem gleichen Argument müsste PwC gegen die freie Wahl von Banken, Hausratsversicherungen oder Mobiltelefone plädieren.

Kommentare