Verlässt die Türkei die NATO?

Peter Orzechowski

Die »Säuberungsaktion« der türkischen Regierung erreicht einen geopolitisch kritischen Punkt: Ranghohe NATO-Militärs sind betroffen. Die USA sind alarmiert. Gleichzeitig bahnt sich zwischen Putin und Erdoğan eine neue Freundschaft an. Manche fürchten, Ankara werde die NATO verlassen und sich Moskau zuwenden. Aber geht das überhaupt?



Bis Freitag vergangener Woche sind laut dem türkischen Innenminister Efkan Ala 18 044 Verdächtige mit mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung festgenommen worden. Gegen 9677 davon sei Haftbefehl erlassen worden. Um die Flucht von Verdächtigen ins Ausland zu verhindern, wurden nach Alas Angaben bislang 49 211 türkische Reisepässe für ungültig erklärt.

Die Verhaftungswelle erfasste alle gesellschaftlichen Bereiche: Die Manager der Boydak Holding, die im Energie- und Finanzsektor aktiv ist und die bekannten Möbelmarken İstikbal und Bellona besitzt, gehören ebenso dazu wie 1112 Mitarbeiter der türkischen Religionsbehörde, überwiegend Prediger und Koran-Lehrer.

Mehr als 57 000 Staatsbedienstete wurden ihrer Posten enthoben oder versetzt – vor allem in Militär, Polizei und Justiz, aber auch in Ministerien, Universitäten, Medien und Schulen. Mehr als 9000 Mitarbeiter des Innenministeriums wurden entlassen, die meisten aus Polizei und Gendarmerie.

Die Polizei und die Justiz waren bereits nach der Einleitung umfassender Korruptionsermittlungen gegen Politiker und Geschäftsleute aus dem Umfeld Erdoğans im Dezember 2013 zum Ziel einer umfassenden Kampagne geworden, in deren Zuge Tausende Polizisten, Staatsanwälte und Richter entlassen oder versetzt wurden.

131 Redaktionen und Verlagshäuser, darunter 45 Zeitungen, 16 Fernsehsender, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften und drei Nachrichtenagenturen wurden geschlossen.

Der Schlag gegen die NATO-Connection

Die Säuberung macht auch vor Militärs nicht Halt, die eng mit der NATO verbandelt waren. Am Freitag entband die türkische Regierung mehrere Generäle von ihren Aufgaben bei der NATO. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur sind die zwei türkischen Mitglieder im Führungsstab des Afghanistan-Einsatzes betroffen. Zudem wurde bereits kurz nach dem Umsturzversuch der türkische Stabschef im Landstreitkräfte-Hauptquartier in Izmir festgenommen. Bei einer Razzia in der Kriegsakademie des Militärs in Istanbul habe es 40 Festnahmen gegeben.

Insgesamt wurden mehr als 7400 Soldaten und Offiziere festgenommen, darunter mindestens 125 Generäle und Admiräle. 109 von ihnen wurden in Untersuchungshaft genommen wegen des Verdachts des »Versuchs zum Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung« und des »Versuchs zur Ermordung« des Präsidenten. Unter ihnen ist auch der frühere Luftwaffenkommandeur Akin Öztürk, der als Anführer der Putschisten gilt.

Auch Erdoğans persönlicher Adjutant Ali Yazıcı und General Mehmet Dişli, der Bruder des Vizegeneralsekretärs der Regierungspartei AKP, Saban Dişli, wurden festgenommen. Beide bestreiten ebenso wie Öztürk jede Beteiligung. Levent Türkkan, der Adjutant von Generalstabschef Hulusi Akar, sitzt ebenfalls in Haft und gestand angeblich, zur Bewegung von Fethullah Gülen zu gehören, der laut Regierung hinter dem Umsturzversuch steckt.

Der nun erforderliche personelle Umbau im türkischen Militär erschwert aus Sicht des US-Geheimdienstdirektors James Clapper den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). »Viele unserer Ansprechpartner wurden aus dem Weg geräumt oder festgenommen. Es steht außer Frage, dass das unsere Kooperation mit den Türken zurückwerfen und schwieriger machen wird«, sagte Clapper bei einer Sicherheitskonferenz in Aspen auf eine entsprechende Frage.

General Joseph Votel, Oberbefehlshaber des Zentralkommandos, äußerte sich ähnlich: »Wir sind sehr stark abhängig von der Türkei, was die Stationierung unserer Ressourcen angeht«, sagte er bei derselben Konferenz. Er sei besorgt darüber, dass die Ereignisse der vergangenen zwei Wochen Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit der Türkei haben könnten.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wies die Kritik scharf zurück und warf der US-Seite vor, mit den Putschisten gemeinsame Sache zu machen. »Die ganze Welt sieht, dass wir die Demokratie schützen wollen. Aber manch einer sympathisiert mit jenen, die hinter Gittern gelandet sind«, sagte Erdoğan am Freitag in Ankaras Vorort Gölbaşı. Ein General aus einem wichtigen US-Amt spricht davon, dass Militärs, mit denen er Kontakt gehabt hat, ins Gefängnis geworfen werden. »Das juckt dich nicht, wer bist denn du eigentlich?« fragte Erdoğan empört.

Der Präsident warf dem US-General vor, die Seite der Verschwörer bezogen zu haben. »Dabei befindet er (Votel, Anm. d. Verf.) sich im Land, wo der ›Hauptverschwörer‹ (oppositioneller Prediger Fethullah Gülen – Anm. d. Verf.) lebt.«

Das Tauziehen um die Auslieferung Gülens vergiftet das Klima zwischen Ankara und Washington zunehmend. Der türkische Premier Binali Yıldırım warnte, dass Ankara im Falle einer negativen Antwort Washingtons seine Beziehungen mit den USA anders entwickeln könnte.

»Ich sage der US-Führung: Hier gibt es eine globale Gefahr. Das war ein Versuch zum Sturz der legitimen Staatsführung. Da ging es um keine Religion und keine religiösen Werte. Welche Beweise sind denn noch nötig? Falls unsere Freunde trotz all dem noch weitere Beweise verlangen werden, dann (…) werden wir sehr traurig sein und müssen möglicherweise unsere Freundschaft anders betrachten«, so Yıldırım.

Die derzeitigen Spannungen zwischen Ankara und Washington hat die türkische NATO-Basis Incirlik bereits zu spüren bekommen. Dort, wo sich auch Soldaten der Bundeswehr befinden, war nach dem Putschversuch die Stromversorgung für einige Tage unterbrochen worden. Nach dem Umsturzversuch ist es vor dem Stützpunkt zu Demonstrationen gekommen. Die Demonstranten forderten, dass sowohl die US-Streitkräfte als auch der NATO-Stützpunkt verschwinden sollen.

Eine neue Achse Damaskus-Ankara-Teheran-Moskau?

Die jüngsten Schritte der türkischen Führung könnten von Ankaras Absicht zu einer Neuausrichtung seiner außenpolitischen Prioritäten zeugen, schreibt die Zeitung Iswestija bereits am Mittwoch letzter Woche.

Das lassen unter anderem die Beantragung der Auslieferung des türkischen Oppositionellen Fethullah Gülen aus den USA und die Festnahme der zwei Piloten vermuten, die im November 2015 einen russischen Bomber Su-24 über Syrien abgeschossen hatten. Nach Einschätzung des Direktors des russischen Informations- und Analysenzentrums »Nahost-Kaukasus«, Stanislaw Tarassow, sind das Beweise dafür, dass die türkische Führung auf Distanz zu den USA geht und sich um eine Annäherung mit Russland bemüht.

»Recep Tayyip Erdoğan nutzt Gülen für eine taktische Abkühlung der Beziehungen mit den USA aus. Dadurch bemüht er sich um eine Festigung der Beziehungen mit Russland, dem Iran, Aserbaidschan und Kasachstan und erpresst offensichtlich den Westen«, vermutet Tarassow. Erdoğan hat inzwischen seinen iranischen Amtskollegen Hassan Rohani angerufen und sich bereit erklärt, mit Teheran und Moskau zusammenzuwirken.

»Wir sind heute mehr als je zuvor entschlossen, mit dem Iran und Russland Hand in Hand zu gehen und gemeinsam regionale Probleme zu lösen«, wird der türkische Staatschef von der iranischen Nachrichtenagentur IRNA zitiert. »Wir wollen unsere Bemühungen um die Wiederherstellung des Friedens und der Stabilität in der Region intensivieren.«

Erster russisch-türkischer Deal: Syrien

Der Economist berichtet, dass die aktuelle Entlassungswelle beim türkischen Militär vor allem die Anti-Assad-Milizen in Syrien geschwächt habe. Die Regierung in Ankara hat den Grenzübergang Bab al-Hawa nach dem Putschversuch am 15. Juli schließen lassen, die von Mitgliedern der Freien Syrischen Armee (FSA) genutzt wurde, um von der Türkei aus nach Syrien einzureisen. »Wir haben alles darauf gesetzt, dass das Regime fällt. Stattdessen hat sich alles verändert, außer dem Regime selbst«, zitiert das Blatt einen Sprecher der Freien Syrischen Armee (FSA). Ein Söldner sagt dem Economist: »Das Spiel ist verloren.«

Hintergrund ist eine Kehrtwende in Ankara: Präsident Erdoğan will offenbar ein Arrangement mit dem syrischen Präsidenten Assad. Der türkische Premier Binali Yıldırım sagte Mitte Juli, dass das »größte Ziel« der Türkei die Wiederherstellung von guten Beziehungen zu Syrien sei, berichtet The Middle East Eye. Yıldırım sagte: »Es ist unser größtes und unabänderliches Ziel: die Entwicklung guter Beziehungen zu Syrien und zum Irak und all unseren Nachbarn rund um das Mittelmeer und das Schwarze Meer.«

Der Journalist Faik Bulut sagt, dass sich Regierungsvertreter aus Syrien und der Türkei in den vergangenen Monaten sieben bis acht Mal getroffen hätten. »Es hat nicht nur ein oder zwei Treffen gegeben. Die türkische Regierung setzt Russland und den Iran als Vermittler ein«, zitiert das Türkische IMCTV Bulut.

Mögliche Reaktionen aus Washington

Wie würden die USA und die NATO auf einen Austritt der Türkei aus dem Bündnis reagieren? »Der Westen könnte Sanktionen verhängen und eine Anspannung der Wirtschaftslage in der Türkei auslösen oder auch auf die ›kurdische Karte‹ setzen«, sagt der bereits zitierte Stanislaw Tarassow. »Es könnte also zu einem großen geopolitischen Kampf kommen.« Der Politologe Sergej Filatow sieht noch eine andere mögliche Reaktion: Er schließt nicht aus, dass Gülen am Ende tatsächlich den türkischen Behörden übergeben wird.

»Die USA haben bereits Muammar al-Gaddafi, Saddam Hussein und Husni Mubarak aufgegeben. Da sie daran interessiert sind, dass in der Türkei das Chaos ausbricht, werden sie alles tun, um ihre Ziele zu erreichen. Gülen genießt die Unterstützung von sehr vielen Menschen. Falls sie ihn der Türkei überlassen, werden diese Menschen auf die Straße gehen und ihren Anführer verteidigen. Egal wie, aber die Amerikaner werden die Situation destabilisieren«, so der Experte.

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