Das Ende des Kemalismus naht

Nach dem abgewehrten Putschversuch kommt die Islamisierung der Türkei in Fahrt. Massnahmen werden ergriffen, die an die Substanz der Zivilgesellschaft gehen. Es könnte ein böses Erwachen geben. 
 Mehmet Görmez, zweiter von links, ruft zum Totengebet auf. (Bild: Kayhan Ozer / Keystone)
Wohl auch wegen der sich jagenden Meldungen über die anhaltenden Säuberungen in der Türkei kommt bei hiesigen Einschätzungen der dortigen Lage ein wichtiger, wenn nicht gar der entscheidendste Aspekt zu kurz. Im Kern geht es um die schon länger im Raum stehende Grundfrage, wohin sich das Land unter der AKP-Regierung tatsächlich bewegt: Ist die immer noch laizistische Türkei dabei, ein islamischer Staat zu werden? Seit dem Putschversuch und den darauffolgenden Massnahmen drängt sich die Frage umso mehr auf, als sich nun die Anzeichen dafür mehren, dass der «Gegenputsch» von Erdogans Partei dazu genutzt wird, die schon seit einigen Jahren forcierte Islamisierung der türkischen Gesellschaft zu beschleunigen.

Die Dimension des Sakralen

Ein Indiz dafür war schon, dass die Abwehr des Umsturzversuchs durch die Regierung und ihre Anhänger gleich als ein Ereignis von sakraler Dimension apostrophiert wurde. So rief in der Putschnacht kein Geringerer als Mehmet Görmez, Leiter der türkischen Religionsbehörde (Diyanet), höchstpersönlich alle Moschee-Imame im Land per SMS dazu auf, von den Minaretten ein Totengebet aus osmanischer Zeit erklingen zu lassen – ein Gebet, das säkularen Türken kaum bekannt ist, von AKP-Anhängern aber offenbar als Signal verstanden wurde, auf die Strasse zu gehen, sich vor den Moscheen zu versammeln, fromme Sprüche zu skandieren und sich mancherorts auch den Putschisten in den Weg zu stellen.

Gemäss der kurz darauf gemachten Äusserung des türkischen Staatschefs, der versuchte Staatsstreich sei ein «Geschenk Gottes», wird in Regierungskreisen und ihnen nahestehenden islamistisch gefärbten Medien seitdem behauptet, dass die Vereitelung des Putsches auf Gottes Hilfe beruhe. Das Diyanet als die richtungsweisende religiöse Instanz des Landes hebt zudem in der jüngsten Ausgabe seiner Monatszeitschrift hervor, dass dieser Erfolg nicht zuletzt auch dem Einsatz des Chefs der Behörde und seiner Mitarbeiter in jener langen Nacht zu verdanken sei.

Zwar vermischen sich im Diskurs der hier schreibenden Autoren – meist Theologen – Religion und Nationalismus, doch Erstere scheint Letzterem häufig übergeordnet zu sein. So wird ein Trend offenbar, der in der Geschichte der modernen Türkei neu ist. Im Kemalismus nämlich war die Hierarchie umgekehrt: Der Staatsislam hatte sich dem türkischen Nationalismus unterzuordnen. Das ging mitunter sogar so weit, dass kemalistisch eingestellte Religionsgelehrte meinten, den Laizismus aus dem Koran ableiten zu können.

Im Zeichen der neuen islamistischen Lesart wird nun auch die letzte Bastion des Kemalismus zu Fall gebracht: das Militär, aus dem einst Atatürk und lange Zeit nach ihm die Staatselite kamen. So forderte Erdogan unmittelbar nach dem Putschversuch, dass der Luftwaffenstützpunkt Akinci bei Ankara, von dem die Kampfjets der Verschwörer gestartet waren, wieder seinen früheren Namen erhält und nach den «Abtrünnigen» (Mürted) benannt wird. Vor kurzem kam man dieser Forderung tatsächlich nach.

Der Schritt ist ein bedeutender symbolpolitischer Akt: Auf dem Areal, auf dem der Stützpunkt 1960 errichtet wurde, hatte im Jahr 1402 die berühmte Schlacht um Ankara stattgefunden. Die Osmanen sollen sie nach türkischer Auffassung deshalb verloren haben (was das Land in einen zehnjährigen blutigen Bürgerkrieg stürzte), weil eine ihrer Einheiten – turkmenische Tataren – zum mongolischen Feind übergelaufen war. Man nannte sie «Abtrünnige», und der Ort wurde zum Sinnbild eines nationalen Traumas. Diese Lesart teilten zunächst auch die Kemalisten, doch erschien ihnen diese Bezeichnung zu religiös aufgeladen, weshalb die Luftwaffenbasis 1995 auf Druck ultranationalistischer Kreise den Namen «Stürmer» erhielt.

Die jüngst erfolgte erneute Umbenennung ist nicht einfach als Übernahme einer älteren Bezeichnung zu betrachten, sondern es handelt sich um eine bewusste Resakralisierung des Begriffs «Mürted»: Die Putschisten sind aus Sicht der AKP, die glaubt, Gott auf ihrer Seite zu haben, Apostaten. Damit trägt zum ersten Mal eine Militäranlage in der Türkei eine religiöse Bezeichnung, die von der Regierung auch als solche gemeint ist und die zudem noch mit der osmanischen Geschichte eng verknüpft ist, welche von Erdogan und seiner Gefolgschaft verklärt wird.

Dieser im Land Aufsehen erregende Vorgang folgt auf nicht weniger kontroverse Massnahmen, mit denen man das Militär ebenfalls in die Knie zwang. So wurden vor einigen Wochen sämtliche Militärkrankenhäuser dem türkischen Gesundheitsministerium überantwortet. Das bekannteste und traditionsreichste von ihnen, die Ankaraer Militärmedizinische Akademie Gülhane, bekanntes Symbol für den wissenschaftlichen Fortschritt des Landes, wurde kurzerhand nach Sultan Abdülhamid benannt – ein Schock für alle Kemalisten, die nun mit ansehen mussten, wie ein ranghoher Armeeoffizier die Leitung der Akademie an eine kopftuchtragende Ärztin abtrat.

Einbruch in die Domäne der Militärs

Ein weiteres kemalistisches Tabu in der Domäne des Militärs hatte die Regierung per Erlass schon kurz davor gebrochen. Sie erlaubt nun Frauen von religiösen Offizieren, die ein Kopftuch tragen, ihre Ehemänner in Armee-Einrichtungen zu begleiten. Das Tragen eines Kopftuchs – nachdem dies nun auch in Militäranlagen möglich ist – ist neuerdings auch Polizistinnen gestattet, womit gleichzeitig eine weitere kemalistische Regelung abgeschafft und auch ein mögliches Hindernis bei der Zusammenarbeit von Polizei und Militär beseitigt wurde.

Der Armee werden ausserdem sukzessive Ressourcen und sogar ganze Teilbereiche genommen. So wird sie nicht nur bald ihre Immobilien und Grundstücke in den Städten verlieren, sondern laut einem Dekret Erdogans auch die Gendarmerie-Einheiten (Jandarma), die nun dem Innenministerium angegliedert werden – es geht um nicht weniger als rund ein Drittel des Personals der Streitkräfte. Auch kündigt sich nach der Schliessung sämtlicher Militärakademien, Kadetten- und Offiziersschulen sowie mit der beabsichtigten Einrichtung einer einzigen «Nationalen Verteidigungsuniversität» an ihrer Stelle eine Umerziehungsoffensive an, über die Präsident Erdogan höchstpersönlich wird wachen können – schliesslich wird er, wie bei allen Hochschulen des Landes, auch bei der Ernennung des Rektors dieser Universität das letzte Wort haben.

Auf zu neuer Grösse

Welche Art Staatsideologie dort eines Tages vermittelt wird, lässt sich jetzt schon erahnen. Es genügt ein Blick auf die soeben vom türkischen Erziehungsministerium zum Schulbeginn im Rahmen einer einschlägigen Projektwoche herausgegebene Gedenk-Broschüre mit dem Titel «Der Sieg der Demokratie am 15. Juli und unsere Märtyrer», in der sich Religion und Geschichte wieder stark vermischen. Die Titelseite zeigt schemenhaft dargestellte Demonstranten, die vor der Kulisse hoch aufragender Minarette nach der Putschnacht im Morgenrot siegestrunken türkische Nationalfahnen schwenken. Das türkische Volk, suggeriert das Bild, hat mit Gottes Hilfe über die Putschisten gesiegt: ein bereits von der erwähnten Diyanet-Zeitschrift vertrautes Motiv.

Zwei Gedichte sind als Motto vorangestellt. Das eine ist aus der Feder des säkularen, den Kemalisten aber verhassten Dichters Nazim Hikmet. Das zweite stammt von einem ihrer erbittertsten Gegner, dem islamistischen Ideologen und Dichter Necip Fazil Kisakürek (1904–1983). Der von Erdogan und seiner Gefolgschaft in der AKP leidenschaftlich verehrte und zum Vorbild erklärte Publizist träumte von einem «Grossen Osten» islamisch-türkischer Prägung und war ein glühender antiwestlicher Fundamentalist und Antisemit. Die Türken würden sich nur dann wieder zu neuer Grösse erheben, so sein Credo, wenn sie – von einem erhabenen und unumschränkten Herrscher angeführt – zum wahren Islam zurückkehrten und sich von allen westlichen Einflüssen lösten. Der kemalistische Laizismus gehörte für Kisakürek selbstverständlich auch dazu.

Der jetzige Kurs der AKP-Regierung lässt die Türkei immer weiter von Europa abdriften. Dies zu ignorieren, wäre falsch.

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