Nach dem abgewehrten Putschversuch kommt die Islamisierung der Türkei
in Fahrt. Massnahmen werden ergriffen, die an die Substanz der
Zivilgesellschaft gehen. Es könnte ein böses Erwachen geben.
Wohl auch wegen
der sich jagenden Meldungen über die anhaltenden Säuberungen in der
Türkei kommt bei hiesigen Einschätzungen der dortigen Lage ein
wichtiger, wenn nicht gar der entscheidendste Aspekt zu kurz. Im Kern
geht es um die schon länger im Raum stehende Grundfrage, wohin sich das
Land unter der AKP-Regierung tatsächlich bewegt: Ist die immer noch laizistische Türkei dabei, ein islamischer Staat zu werden?
Seit dem Putschversuch und den darauffolgenden Massnahmen drängt sich
die Frage umso mehr auf, als sich nun die Anzeichen dafür mehren, dass
der «Gegenputsch» von Erdogans Partei dazu genutzt wird, die schon seit
einigen Jahren forcierte Islamisierung der türkischen Gesellschaft zu
beschleunigen.
Die Dimension des Sakralen
Ein Indiz dafür war schon, dass die Abwehr des Umsturzversuchs durch die Regierung und ihre Anhänger gleich als ein Ereignis von sakraler Dimension apostrophiert
wurde. So rief in der Putschnacht kein Geringerer als Mehmet Görmez,
Leiter der türkischen Religionsbehörde (Diyanet), höchstpersönlich alle
Moschee-Imame im Land per SMS dazu auf, von den Minaretten ein
Totengebet aus osmanischer Zeit erklingen zu lassen – ein Gebet, das
säkularen Türken kaum bekannt ist, von AKP-Anhängern aber offenbar als
Signal verstanden wurde, auf die Strasse zu gehen, sich vor den Moscheen
zu versammeln, fromme Sprüche zu skandieren und sich mancherorts auch
den Putschisten in den Weg zu stellen.
Gemäss
der kurz darauf gemachten Äusserung des türkischen Staatschefs, der
versuchte Staatsstreich sei ein «Geschenk Gottes», wird in
Regierungskreisen und ihnen nahestehenden islamistisch gefärbten Medien
seitdem behauptet, dass die Vereitelung des Putsches auf Gottes Hilfe
beruhe. Das Diyanet als die richtungsweisende religiöse Instanz des
Landes hebt zudem in der jüngsten Ausgabe seiner Monatszeitschrift
hervor, dass dieser Erfolg nicht zuletzt auch dem Einsatz des Chefs der
Behörde und seiner Mitarbeiter in jener langen Nacht zu verdanken sei.
Zwar
vermischen sich im Diskurs der hier schreibenden Autoren – meist
Theologen – Religion und Nationalismus, doch Erstere scheint Letzterem
häufig übergeordnet zu sein. So wird ein Trend offenbar, der in der
Geschichte der modernen Türkei neu ist. Im Kemalismus nämlich war die Hierarchie umgekehrt:
Der Staatsislam hatte sich dem türkischen Nationalismus unterzuordnen.
Das ging mitunter sogar so weit, dass kemalistisch eingestellte
Religionsgelehrte meinten, den Laizismus aus dem Koran ableiten zu
können.
Im Zeichen der neuen
islamistischen Lesart wird nun auch die letzte Bastion des Kemalismus zu
Fall gebracht: das Militär, aus dem einst Atatürk und lange Zeit nach
ihm die Staatselite kamen. So forderte Erdogan unmittelbar nach dem
Putschversuch, dass der Luftwaffenstützpunkt Akinci bei Ankara, von dem
die Kampfjets der Verschwörer gestartet waren, wieder seinen früheren
Namen erhält und nach den «Abtrünnigen» (Mürted) benannt wird. Vor
kurzem kam man dieser Forderung tatsächlich nach.
Der
Schritt ist ein bedeutender symbolpolitischer Akt: Auf dem Areal, auf
dem der Stützpunkt 1960 errichtet wurde, hatte im Jahr 1402 die berühmte
Schlacht um Ankara stattgefunden. Die Osmanen sollen sie nach
türkischer Auffassung deshalb verloren haben (was das Land in einen
zehnjährigen blutigen Bürgerkrieg stürzte), weil eine ihrer Einheiten –
turkmenische Tataren – zum mongolischen Feind übergelaufen war. Man
nannte sie «Abtrünnige», und der Ort wurde zum Sinnbild eines nationalen
Traumas. Diese Lesart teilten zunächst auch die Kemalisten, doch
erschien ihnen diese Bezeichnung zu religiös aufgeladen, weshalb die
Luftwaffenbasis 1995 auf Druck ultranationalistischer Kreise den Namen
«Stürmer» erhielt.
Die jüngst
erfolgte erneute Umbenennung ist nicht einfach als Übernahme einer
älteren Bezeichnung zu betrachten, sondern es handelt sich um eine
bewusste Resakralisierung des Begriffs «Mürted»: Die Putschisten sind
aus Sicht der AKP, die glaubt, Gott auf ihrer Seite zu haben, Apostaten.
Damit trägt zum ersten Mal eine Militäranlage in der Türkei eine
religiöse Bezeichnung, die von der Regierung auch als solche gemeint ist
und die zudem noch mit der osmanischen Geschichte eng verknüpft ist,
welche von Erdogan und seiner Gefolgschaft verklärt wird.
Dieser im Land Aufsehen erregende Vorgang folgt auf nicht weniger kontroverse Massnahmen, mit denen man das Militär ebenfalls in die Knie zwang.
So wurden vor einigen Wochen sämtliche Militärkrankenhäuser dem
türkischen Gesundheitsministerium überantwortet. Das bekannteste und
traditionsreichste von ihnen, die Ankaraer Militärmedizinische Akademie
Gülhane, bekanntes Symbol für den wissenschaftlichen Fortschritt des
Landes, wurde kurzerhand nach Sultan Abdülhamid benannt – ein Schock für
alle Kemalisten, die nun mit ansehen mussten, wie ein ranghoher
Armeeoffizier die Leitung der Akademie an eine kopftuchtragende Ärztin
abtrat.
Einbruch in die Domäne der Militärs
Ein
weiteres kemalistisches Tabu in der Domäne des Militärs hatte die
Regierung per Erlass schon kurz davor gebrochen. Sie erlaubt nun Frauen
von religiösen Offizieren, die ein Kopftuch tragen, ihre Ehemänner in
Armee-Einrichtungen zu begleiten. Das Tragen eines Kopftuchs – nachdem
dies nun auch in Militäranlagen möglich ist – ist neuerdings auch
Polizistinnen gestattet, womit gleichzeitig eine weitere kemalistische
Regelung abgeschafft und auch ein mögliches Hindernis bei der
Zusammenarbeit von Polizei und Militär beseitigt wurde.
Der
Armee werden ausserdem sukzessive Ressourcen und sogar ganze
Teilbereiche genommen. So wird sie nicht nur bald ihre Immobilien und
Grundstücke in den Städten verlieren, sondern laut einem Dekret Erdogans
auch die Gendarmerie-Einheiten (Jandarma), die nun dem Innenministerium
angegliedert werden – es geht um nicht weniger als rund ein Drittel des
Personals der Streitkräfte. Auch kündigt sich nach der Schliessung
sämtlicher Militärakademien, Kadetten- und Offiziersschulen sowie mit
der beabsichtigten Einrichtung einer einzigen «Nationalen
Verteidigungsuniversität» an ihrer Stelle eine Umerziehungsoffensive an,
über die Präsident Erdogan höchstpersönlich wird wachen können –
schliesslich wird er, wie bei allen Hochschulen des Landes, auch bei der Ernennung des Rektors dieser Universität das letzte Wort haben.
Auf zu neuer Grösse
Welche
Art Staatsideologie dort eines Tages vermittelt wird, lässt sich jetzt
schon erahnen. Es genügt ein Blick auf die soeben vom türkischen
Erziehungsministerium zum Schulbeginn im Rahmen einer einschlägigen
Projektwoche herausgegebene Gedenk-Broschüre mit dem Titel «Der Sieg der
Demokratie am 15. Juli und unsere Märtyrer», in der sich Religion und
Geschichte wieder stark vermischen. Die Titelseite zeigt schemenhaft
dargestellte Demonstranten, die vor der Kulisse hoch aufragender
Minarette nach der Putschnacht im Morgenrot siegestrunken türkische
Nationalfahnen schwenken. Das türkische Volk, suggeriert das Bild, hat
mit Gottes Hilfe über die Putschisten gesiegt: ein bereits von der
erwähnten Diyanet-Zeitschrift vertrautes Motiv.
Zwei
Gedichte sind als Motto vorangestellt. Das eine ist aus der Feder des
säkularen, den Kemalisten aber verhassten Dichters Nazim Hikmet. Das
zweite stammt von einem ihrer erbittertsten Gegner, dem islamistischen
Ideologen und Dichter Necip Fazil Kisakürek (1904–1983). Der von Erdogan
und seiner Gefolgschaft in der AKP leidenschaftlich verehrte und zum
Vorbild erklärte Publizist träumte von einem «Grossen Osten»
islamisch-türkischer Prägung und war ein glühender antiwestlicher
Fundamentalist und Antisemit. Die Türken würden sich nur dann wieder zu
neuer Grösse erheben, so sein Credo, wenn sie – von einem erhabenen und
unumschränkten Herrscher angeführt – zum wahren Islam zurückkehrten und
sich von allen westlichen Einflüssen lösten. Der kemalistische Laizismus
gehörte für Kisakürek selbstverständlich auch dazu.
Der jetzige Kurs der AKP-Regierung lässt die Türkei immer weiter von Europa abdriften. Dies zu ignorieren, wäre falsch.
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