Rückblick: Erster Jahrestag des Beginns der russischen Intervention in Syrien

Ein russischer Pilot in der Kabine seines MI-8AMShT Transport- und Kampfhubschraubers, Flugbasis Hmeimim, Syrien.
Ein russischer Pilot in der Kabine seines MI-8AMShT Transport- und Kampfhubschraubers, Flugbasis Hmeimim, Syrien.
 
Heute jährt sich erstmals Russlands Intervention in Syrien. Wie ist es dazu gekommen? Wie ist sie verlaufen und was hat sie gebracht? Rückblick auf 12 Monate eines blutigen, brutalen und schmutzigen Krieges, der uns alle angeht. 
 
von Zlatko Percinic

Es gibt ein Sprichwort in Russland, das übersetzt in etwa lautet:
"Russland beginnt keine Kriege, es beendet sie."
Dieses Sprichwort beruht auf der inhärenten und ich neige schon fast zu sagen kollektiven Kultur des russischen Volkes – wobei es natürlich, wie in allen anderen Ländern und Kulturen, auch in Russland Ausnahmen gibt. Man scheut nationale Risiken, erst recht in außenpolitischen Belangen. Und wer jetzt auf die Sowjetunion als vermeintliches "Imperium" oder das expansionistische Zarenreich verweist, der sollte einerseits bedenken, wer die "internationale Revolution" in der Sowjetunion propagierte und andererseits, wer im Zarenreich das Sagen hatte. Das Volk selbst teilte nie den Appetit auf territoriale Expansion oder allgemein auf Kriege.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow zeigt sich in Anbetracht des undurchsichtigen Spiels zahlreicher Akteure im Syrienkonflikt

Auf Syrien übertragen hat sich bisher nur der erste Teil dieses Sprichworts bewahrheitet. Von einem Ende des Krieges kann keine Rede sein, was aber auch nie das Ziel der russischen Intervention war. Das Ziel war auch nicht die "Schwächung und Zerstörung von ISIS", wie es etwa US-Präsident Barack Obama formuliert hatte, um einen erneuten Einsatz der US-Armee im Mittleren Osten vor seinem Volk rechtzufertigen.

Bevor wir zur Erläuterung des von Russland erklärten Zieles kommen, welches von Syrien ultimativ akzeptiert und genehmigt wurde, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein Ereignis lenken, welches nur zwei Tage vor dem 30. September 2015 stattfand: die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York und die Rede des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin.
In seiner Adresse an die Generalversammlung äußerte sich das russische Staatsoberhaupt wie folgt:
Wir alle wissen, dass nach dem Ende des Kalten Krieges eine Welt mit einem Dominanzzentrum übrigblieb, und dass jene, die sich an der Spitze der Pyramide wiederfanden, sich dazu verleiten ließen, zu glauben, sie wüssten - da sie so mächtig und so einzigartig sind -, stets am besten, was zu tun sei, und dass sie nicht mit der UNO rechnen müssen, die, statt die Entscheidungen, die sie brauchen, (einfach) abzunicken, diesen oft im Wege steht.
Deshalb sagen sie, dass die UNO ihren Dienst getan habe und jetzt obsolet und überholt sei. [...] Wir werten jegliche Versuche, die Legitimität der Vereinten Nationen zu untergraben, als extrem gefährlich. Das könnte im Kollaps der gesamten Architektur der internationalen Beziehungen enden, und dann wird es in der Tat nichts weiter mehr geben als das Gesetz der Stärke. Die Welt würde von Selbstsüchtigkeit dominiert werden statt von kollektiver Anstrengung, durch Diktat statt Gleichberechtigung und Freiheit, und statt wirklich und wahrhaft unabhängigen Staaten würden wir Protektorate haben, die von außen kontrolliert werden. [...
Es scheint so, als ob manche, anstatt aus den Fehlern anderer zu lernen, es bevorzugen, diese zu wiederholen und weiterhin Revolutionen zu exportieren, nur, dass es jetzt eben "demokratische" Revolutionen seien. [...] Ich sehe mich gezwungen, jene zu fragen, die diese Situation geschaffen haben: Realisieren Sie wenigstens jetzt, was Sie getan haben?
Ich fürchte, diese Frage wird unbeantwortet bleiben, weil die Betreffenden ihre Politik nie aufgegeben haben, die auf Arroganz, Einzigartigkeit und Straffreiheit beruht. [...]
Der sogenannte "Islamische Staat" hat Zehntausende von Bewaffneten, die für ihn kämpfen, einschließlich ehemaliger irakischer Soldaten, die nach der Invasion 2003 der Straße überlassen wurden. Viele Rekruten kommen aus Libyen, dessen Staat infolge einer groben Verletzung der UN-Resolution 1973 des Sicherheitsrates zerstört wurde.
Und jetzt stoßen vom Westen unterstützte Mitglieder der sogenannten "moderaten" syrischen Opposition zu radikalen Gruppierungen. Sie erhalten Waffen und Ausbildung, und dann laufen sie zum sogenannten Islamischen Staat über. [...]
Ich möchte gerne jenen etwas sagen, die sich damit befassen: Gentlemen, diese Leute, mit denen Ihr es zu tun habt, sind brutal, aber sie sind nicht dumm. Sie sind genauso klug, wie Ihr es seid. Die große Frage ist nun: Wer spielt mit wem? Jenes kürzliche Ereignis, als die vermeintlich "moderateste" Oppositionsgruppe ihre Waffen an Terroristen übergeben hat, ist ein anschauliches Beispiel dafür."

Zwei Tage nach dieser Rede, an einem noch sehr heißen Mittwochvormittag in der irakischen Hauptstadt Bagdad, staunten Angestellte der US-Botschaft nicht schlecht, als ein russischer Drei-Sterne-General die größte Botschaft der Welt aufsuchte und nach dem Militärattaché verlangte. Was der russische General zu sagen hatte, schlug wie eine Bombe ein und überrumpelte das komplette Verteidigungsnetzwerk der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Nachricht des Generals war:
"Wir fangen in einer Stunde mit Luftangriffen in Syrien an. Schaut, dass eure Kampfjets am Boden bleiben."
Die Krux an der ganzen Sache ist, dass trotz eines gigantischen Überwachungsapparats, nicht weniger als 17 verschiedenen Geheimdiensten und einem sagenhaften Verteidigungsetat von 740 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 niemand in Washington wirklich wusste, was in Syrien vor sich geht. Ein CNN-Bericht vom 16. September 2015 illustriert das wunderschön. Mit dem Titel "Was bezweckt Russland in Syrien?" konnten es die Redakteure nicht besser treffen.


Und was für eine Panik dieser mysteriöse Ausbau eines Luftwaffenstützpunktes in Washington auslöste, zeigte sich darin, dass US-Außenminister John Kerry "das dritte Mal in zehn Tagen" bei seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow anrief, wo er abwechselnd zwischen "alarmiertem" Gemütszustand, Drohungen und Warnungen pendelte, um etwas in Erfahrung zu bringen. Es sind Berichte wie die des Brookings Instituts, eines dem Weißen Haus nahestehenden Think-Tanks, dessen Analysen und Empfehlungen oft Eingang in außenpolitische Papiere finden, die eine Teilschuld an diesem nachrichtendienstlichen Fiasko tragen.

Ein zerstörter LKW des Hilfskonvois des arabischen Halbmondes und unter Schirmherrschaft der UN stehend.

Wenn es dort beispielsweise heißt, dass die Verlegung einer Staffel von SU-34-Kampfjets für eine "kleine Intervention" möglich wäre, diese aber "trotzdem einer großen logistischen Anstrengung" bedürfte, dann signalisiert das den Empfängern im Weißen Haus, dass man nicht unbedingt auf den russischen Bären setzen muss. Zumal laut diesem Bericht "mindestens 1.500 Mann" erforderlich wären, um überhaupt einen "spürbaren Unterschied" im syrischen Chaos zu schaffen, dass aber aufgrund der "traurigen Bilanz" der russischen Luftwaffe und ohne Real-Time-Intelligence und entsprechenden Präzisionsbomben die "Effizienz der Luftschläge [...] sicherlich gering sein wird".

Nur zehn Tage später erfuhr man jedoch aus Satellitenbildern, dass es bereits "28 Kampfjets, 15 Helikopter, 9 Panzer, 3 Luftabwehrsysteme und mindestens 500 Soldaten" auf dem Stützpunkt gibt. Das Pentagon zeigte sich über diese rasante Fertigstellung der Verlegung überrascht, konnte aber immer noch nichts mit diesen Informationen anfangen. "Die Vereinigten Staaten beobachten die Situation in Syrien ganz genau", aber es gebe "immer noch kein klares Bild darüber, was genau die Russen sich davon erhoffen". Es gebe aber "Offizielle" im Pentagon, die daran glauben, dass es "eine Möglichkeit für die Russen geben könnte, eine konstruktive Rolle zu spielen", sagte der Pentagon-Sprecher. Gemeint war damit eine Subordination der Russen unter US-Führung.

Als die russischen Luftschläge in Syrien dann tatsächlich begannen und sich entgegen der "Analyse" aus dem Haus Brookings auch noch als äußerst effizient erwiesen, machte die Panik der vorangegangenen Tage in Washington der Fassungslosigkeit und der Wut Platz. Wut darüber, dass die ersten Angriffe so genannten "Rebellen" galten, die vom amerikanischen Geheimdienst CIA in der Türkei ausgebildet und bewaffnet wurden. Wut darüber, dass es sich Russland erlaubt hat, ohne Abstimmung mit den USA loszuschlagen und diesen nur eine Stunde Vorlaufzeit gewährt hat.
US-Verteidigungsminister Ash Carter konnte seine Emotionen kaum im Zaum halten, als er erklärte:
Das ist nicht die Art von Verhalten, die man von einer professionellen russischen Armee erwarten würde."

Dem widersprach ausgerechnet General Anthony Zinni, der von 1997 bis 2000 Oberkommandeur von CENTCOM (Central Command), dem zuständigen amerikanischen "Regionalkommandozentrum" - die USA haben die Welt in sechs Regionalkommandozentren aufgeteilt - für den Nahen/Mittleren Osten, Ost-Afrika und Zentralasien war. Er meinte:
Die Russen tun das, was wir vermutlich auch tun würden. Ich bin mir sicher, dass diese Art von Konfliktbewältigung von beiden Seiten erwartet werden kann: sehr kurze Vorlaufzeit, 'bleibt diesem Luftraum fern', that's it."
Was das Pentagon wirklich "angepisst" hat - um die Worte des Syrien-Experten Joshua Landis zu gebrauchen -, war, dass sich erst am Tag zuvor Verteidigungsminister Carter mit den verantwortlichen Leuten im CENTCOM auf die Absicht geeinigt hatte, "bald" das Gespräch mit Moskau zur Konfliktvermeidung zu suchen. Damit gab er dem Druck der Militärs nach, die ihn schon seit Tagen dazu gedrängt hatten, diesen Schritt zu unternehmen. Und aus diesem "bald" wurde nach den russischen Luftschlägen, in den Worten von Außenminister John Kerry, "bereits am Donnerstag", also schon am Tag danach. Nun, so schnell wollte es Carter dann doch nicht haben und sich erst recht nicht den Terminfahrplan vom Außenminister vorgeben lassen. Erst "in einigen Tagen" könnte es soweit sein, meinte er.

Quelle: Vitali Ankow

Kerry kam auch nicht umhin, Russland vor weiteren Angriffen auf "Rebellen" und Dschihadisten zu warnen, die nicht zu Al-Qaida oder ISIS gehören. Außerdem versprach er jetzt, die US-geführte Koalition gegen ISIS werde ihre Anstrengungen "dramatisch beschleunigen".

"Dramatisch beschleunigen"? Mehr als ein Jahr nach dem Start der "Operation Inherent Resolve", mittels welcher Präsident Barack Obama versprochen hatte, den sogenannten Islamischen Staat zu "schwächen und zerstören"? Damit hat John Kerry nur das bestätigt, was von vielen Stellen monatelang kritisiert wurde: Die US-Koalition gegen ISIS mache - diplomatisch ausgedrückt - äußerst wenig gegen die "Terrormiliz".

Widmen wir uns nun der Frage, weshalb Russland nach vier Jahren des Krieges in Syrien den scheinbar kurzfristigen Entschluss gefasst hatte, sich militärisch am Kriegsgeschehen zu beteiligen.
Zuallererst, bevor überhaupt weitere Punkten angeführt werden können, gilt es unmissverständlich klar zu machen, dass der Einsatz auf einer Anfrage der syrischen Regierung beruhte. Damaskus drohte der letzte Halt auf jenem Gebiet zu entgleiten, das noch unter der Kontrolle der Regierung stand. Selbstmordanschläge auf vermeintlich sichere Positionen erschütterten auch noch den letzten Funken Vertrauens in die Fähigkeit des Präsidenten Assad, diesen Krieg gegen wahhabitische Dschihadisten jemals gewinnen zu können. Die vom Westen, der Türkei und den arabischen Ländern unterstützten Extremisten erwiesen sich zunehmend als nahezu omnipotent, mit immer größerem Zulauf an Rekruten.

Aufseiten der syrischen Armee hingegen war es genau andersherum. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten unbestätigten Berichten zufolge 85.000 Soldaten ihr Leben gelassen. Auch Assad musste in einer Rede Ende Juli 2015 zugeben, dass es der Armee an "Manpower" fehle.

Wie die Anfrage vonseiten der Regierung schließlich zustande kam, bleibt auch weiterhin Gegenstand von Spekulationen. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass Russland den syrischen Präsidenten mehr oder weniger zur Anfrage genötigt habe, indem zuerst der Luftwaffenstützpunkt in Latakia ausgebaut wurde und daraufhin erst später die Anfrage kam.


Angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten auf dem Kriegsschauplatz ist dies allerdings eher zweifelhaft. Die syrische Armee wurde zum damaligen Zeitpunkt lediglich von der libanesischen "Partei Gottes", der Hezbollah, mit "Manpower" unterstützt. Erst mit Russlands Intervention kamen dann auch die dringend benötigten iranischen Soldaten aus den Reihen der Revolutionswächter. Nicht ganz ausschließen kann man jedoch, dass Assad selbst die Realität nicht erkennen wollte, wofür es auch genügend historische Beispiele aus anderen Ländern gibt.

US-Bürger, die durch die Angriffe vom 11. September 2001 in ihren Rechten geschädigt wurden, werden auf Grund des Senatsbeschlusses weiterhin zumindest die theoretische Möglichkeit haben, gegen Saudi-Arabien auf dem Zivilrechtsweg vorzugehen.

Nun aber wirklich zurück den Gründen für Russlands Eintritt in den syrischen Krieg – und bewusst nicht "Bürgerkrieg"!

Anfangen möchte ich mit Entwicklungen der letzten Tage, die die Frage nach den Gründen zu einem großen Teil bereits beantworten. Kein Geringerer als US-Präsident Barack Obama selbst erklärte in seiner Rede bei der diesjährigen UN-Vollversammlung, die Vereinigten Staaten von Amerika sollten "einen Teil ihrer Handlungsfreiheit aufgeben" und er räumte ein, ganz nebenbei bemerkt, man habe sich nicht an internationale Gesetze gehalten. Aber man sollte "langfristig" zu dieser Praxis zurückkehren. Und um unsere transatlantischen Einpeitscher noch etwas mehr zu irritieren, meinte Obama außerdem, dass jene Welt, die nach liberalen, demokratischen und marktorientierten Prinzipien erbaut wurde, auch soziale Desintegration und Unglück "in und zwischen den Nationen" gebracht hat.

Ist das aber nicht genau das, was Russlands Präsident Wladimir Putin an gleicher Stelle vor einem Jahr bemängelt hat? Doch damit nicht genug. In einem CNN-Interview erklärte Obama, weshalb er es für gefährlich hält, dass der Senat sein präsidiales Veto gegen ein Gesetz überstimmt hat, das Klagen gegen Saudi-Arabien im Zusammenhang mit 9/11 ermöglicht - und gab damit zu, dass er sich davor fürchtet, dass die USA "plötzlich Verbindlichkeiten für das ausgesetzt sein könnten, was wir in der Welt machen". Woran mag er da bloß gerade gedacht haben?

Die absolut lächerlichste Wortspende kam aber von Samantha Power, der US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, als diese in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates tatsächlich folgendes gesagt hatte:
Das Assad-Regime glaubt nur an eine militärische Lösung. Es sagt selbst, dass es den letzten Quadratmeter von Syrien erobern wird."
Ein US-Erdkampfflugzeug vom Typ A-10 Thunderbolt II wie es auch bei dem Angriff auf die syrischen Regierungstruppen in Deir ez-Zor  während des Waffenstillstandes am 17. September zum Einsatz kam.

Aus amerikanischer und manch europäischer Warte betrachtet ergibt das schon Sinn. Denn die westlichen Staaten haben faktisch eigenhändig den syrischen Staat jemand anderem übertragen und der Regierung in Damaskus die Souveränität abgesprochen. Wenn also die syrische Regierung sagt, sie möchte ihr Land, syrisches Territorium, von Dschihadisten befreien, dann ist das in den Augen Washingtons und einiger anderer der Versuch einer "Eroberung von Syrien". Aber auch diese Selbstherrlichkeit ist genau eines jener Symptome, die Putin bereits in seiner letztjährigen Rede vor den Vereinten Nationen angesprochen hatte.

Weitere Gründe benannte Wladimir Putin schließlich selbst bei einem Sicherheitsgipfel in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe:
Wenn Russland Syrien nicht hilft, dann wird die Situation in diesem Land noch schlimmer als in Libyen, und die Flüchtlingswelle würde noch größer werden."
Damit machte er klar, was viele noch immer nicht verstanden haben: Wenn Assad gestürzt wird, dann werden nicht wie von Zauberhand Freiheit, Demokratie und Stabilität einkehren, sondern dann stürzt mit ihm zusammen das ganze Land ins Verderben – und in weiterer Folge die gesamte Region. Das sind die Lehren aus dem NATO-Angriff auf Libyen im Jahr 2011 und die rechtsgrundlose Verfolgung und barbarische Ermordung Gaddafis.

Ein anderer und ganz zentraler Aspekt ist jedoch auch noch die Tatsache, dass ISIS in der Tat eine Gefahr für Russland darstellt. Es wird hierzulande noch immer übersehen, dass die zwei Kriege in Tschetschenien nicht nur vermeintliche Unabhängigkeitskriege waren, sondern dass die wahhabitische Doktrin im Kaukasus bereits vor dem Ende der Sowjetunion verbreitet war und nach deren Zusammenbruch zur freien Entfaltung kam. Selbstverständlich vollzog sich dies mit großzügiger Unterstützung aus Saudi-Arabien und möglicherweise auch der Türkei. Die wahhabitische Ideologie ist nach wie vor ein wesentlicher Faktor, der junge Männer im Kaukasus in die Hände von Dschihadisten treibt.


Im Juni 2015 schworen diese Dschihadisten dem selbsternannten Kalifen des sogenannten Islamischen Staates ihre Treue und erklärten den Nordkaukasus zur "kaukasischen Provinz des Islamischen Staates". Ihr "heiliger Krieg" gelte Russland und allen anderen Apostaten. Nikolai Patruschew, der Vorsitzende des russischen nationalen Sicherheitsrates, benannte den "islamischen Terrorismus" als einen der "größten Bedrohungen" für Russland.

Das alles waren Gründe, weshalb sich die russische Regierung einer Abstimmung im Parlament stellte, in der es darum ging, einen zunächst auf drei Monate ausgelegten Einsatz in Syrien zu genehmigen. Die ersten Luftschläge und der Abschuss von 26 "Kalibr"-Marschflugkörpern vom Kaspischen Meer aus auf Ziele in Syrien, das waren alles höchst symbolträchtige Signale an die Adresse Amerikas und dessen Verbündeter in Europa und auf der Arabischen Halbinsel.

Damit wollte Moskau von Anfang an auch klar und deutlich ein Zeichen setzen, dass man alle US-Ziele in der Region treffen könne, ohne dass die USA oder die Petromonarchien am Persischen Golf etwas dagegen tun könnten. In diesem Video sieht man, wie eine solche Kalibr-Rakete über Syrien hinwegfliegt, auch wenn es keine offizielle Bestätigung dafür gab:


Exakt einen Monat nach dem Start der russischen Intervention zeigten sich bereits erste politische Erfolge, die zuvor noch für völlig unmöglich gehalten wurden. In einer Syrien-Konferenz in Wien, an der zum allerersten Mal auch der Iran teilnahm, einigten sich die Teilnehmer auf folgende, enorm wichtige Eckpunkte für Syrien:

• Syriens Einigkeit, Unabhängigkeit, territoriale Integrität, und säkularer Charakter sind fundamental
• Staatliche Institutionen müssen intakt bleiben
• Daesh und andere vom UN-Sicherheitsrat genannte - und weitere von den Parteien zu bestimmende - Terrorgruppen müssen besiegt werden
• Dieser politische Prozess bleibt von Syrien geführt und von Syrien kontrolliert, und das syrische Volk wird die Zukunft Syriens bestimmen

Nur einen Tag später explodierte über der ägyptischen Sinai Halbinsel ein russisches Passagierflugzeug (Flug 9268) mit 224 Menschen an Bord. Wie sich relativ schnell herausstellte, handelte es sich um eine Bombe an Bord, die zu dieser Katastrophe führte. Zwar übernahm ISIS die Verantwortung, aber Moskau sah die Verantwortung für diesen Anschlag bei den Geheimdiensten von Saudi-Arabien und Katar liegen.

Damit geriet Wladimir Putin innenpolitisch enorm unter Druck: Einerseits hatte er vor dem Beginn des russischen Einsatzes versprochen, dass es sich um eine limitierte Operation handelt, andererseits durfte er in diesem Moment nicht als schwach oder zögerlich erscheinen. Wer aber vielleicht gehofft hatte, Putin würde endlich etwas Dummes wie einen Angriff auf Saudi-Arabien oder sogar Katar wagen, die nichts weiter als ein riesengroßer US-Stützpunkt sind, der wurde, wie bereits in der Ukraine, schon wieder bitterböse enttäuscht.


Stattdessen versprach Putin seinem Volk, die Urheber des Anschlags zu fassen und zu bestrafen, egal wie lange es auch dauern möge. Damit öffnete er politisch die Tür für eine Erweiterung der Mission in Syrien, welche auch umgehend in Gang gesetzt wurde.

Plötzlich tauchten Berichte über russische Spezialkräfte in Syrien auf, die eventuell den syrischen Truppen mit geheimdienstlichen Informationen beistehen könnten. Der Stützpunkt in Latakia wurde massiv mit modernsten Flugabwehrsystemen wie den S-400 und Geräten für elektronische Kampfführung gegen Angriffe ausgebaut. Zum Einsatz kamen von da an nicht nur die stationierten Kampfjets, sondern auch strategische Langstreckenbomber die von Russland aus abhoben, um ihre absolut tödliche Fracht über Stellungen der Dschihadisten abzuladen. Zusätzlich erhielt das Kommando in Syrien 37 weitere Kampfjets, einschließlich der modernen SU-34.

Auch auf diesen Schritt folgte die Antwort auf dem Fuße. Am 24. November 2015 schoss die Türkei einen russischen Kampfjet ab, der für wenige Sekunden über ein Gebiet flog, das die Türkei als ihr eigenes Staatsgebiet bezeichnete. Einer der Piloten der abgeschossenen Maschine konnte sich zunächst mittels des Schleudersitz vor dem sicheren Tod retten, wurde aber später von Alparslan Celik und seiner Meute der als "moderat" eingestuften Freien Syrischen Armee (FSA) ermordet.

Dieser Abschuss war ein historisches Ereignis. Dies betraf jetzt weniger die wirtschaftlichen Konsequenzen, die sich in Sanktionen äußerten, die Russland gegenüber der Türkei verhängte. Es war vielmehr der entscheidende Faktor, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Militärallianz ein NATO-Mitglied einen russischen Kampfjet abgeschossen hat. Das gab es nicht einmal zu Zeiten des Kalten Krieges. Abgesehen davon, dass es sich dabei um einen Kriegsakt zwischen einem NATO-Land und Russland handelte - denn nichts weiter war dieser Abschuss - war die Reaktion der Nordatlantischen Allianz darauf absolut entscheidend. Statt der aufkommenden Krise entgegenzuwirken und erst einmal die Wogen zu glätten, wurde genau das Gegenteil unternommen.


Die NATO sagte der Türkei sofort jegliche Unterstützung zu und erklärte sich "solidarisch" mit Ankara, ganz so, als ob die Türkei von Russland angegriffen worden wäre. Für andere NATO-Staaten, die womöglich auf einen ähnlichen Akt spekulieren, bedeutete diese Reaktion nichts weiter als die Botschaft: "Ihr könnt machen was ihr wollt, wir stehen euch bei". Natürlich nur, wenn es gegen Russland geht.

Diese Aggressionen waren die Antwort jener Staaten, die schon seit Jahren den Sturz von Bashar al-Assad vorbereitet und auch bereits viel an politischem, aber auch finanziellem Kapital in diesen Sturz investiert hatten. Mit Russlands Auftauchen in Syrien verpufften diese Pläne und die Millionen an US-Dollars wie eine Fata Morgana in der Wüste. Damit aber nicht genug: Die Staaten, die am vehementesten den "Regime Change" betrieben, wurden am Ende politisch so sehr unter Zugzwang gebracht, dass sie auf der Ebene des internationalen Forums der Syrien-Konferenz in Wien Konzessionen machen mussten, zu denen sie ursprünglich nie bereit gewesen wären. Von diesem Zeitpunkt an ging es nicht mehr um Syrien oder Assad. Von da an wurde der Konflikt zu einer Auseinandersetzung zwischen NATO und Russland.

Am heutigen 30. September jährt sich der Beginn der russischen Intervention in Syrien am 30. September 2015. Es ist aber der 24. November 2015, der den Charakter des Krieges in und um Syrien entscheidend verändert hat. Die Geschehnisse der letzten Wochen wie etwa der US-Angriff auf die syrische Armee in Deir Ez-Zor oder der tragische Anschlag auf den Hilfskonvoi bei Aleppo stellen alles Symptome dar, die auf diesen Tag zurückzuführen sind. Und es werden nicht die letzten Ereignisse dieser Art gewesen sein.




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