Syrien: USA unter Beweisdruck

Thomas Pany

Das Blame-Game um den Angriff auf den UN-Hilfskonvoi führt vor, dass die US-Regierung in den Panik-Modus geraten ist

Die US-Regierung verfällt in Syrien in einen Panikmodus. Der Grund dafür ist weniger im Verhalten Russlands zu suchen als im Verhalten der Opposition. Zu beobachten war der Panikmodus beim gestrigen Auftritt des US-Außenministers Kerry vor dem Sicherheitsrat. Dort ging es um die Krise in Syrien und Kerry verlor seine Contenance. 

Es war ein hitziger, hemdsärmeliger Auftritt, bei dem er die Mitglieder des Sicherheitsrates mit "folks" ansprach. Das sollte bedeuten: genug der Formalitäten und der damit verbundenen Rücksichten, hier kommt Klartext. Kerry sagte (hier im vollständigen Wortlaut), er habe das Gefühl, dass sein russischer Kollege Lawrow, einschließlich dessen Umgebung, "in einer Art Paralleluniversum leben", was Syrien angeht.

Kerry: Wir brauchen ein Flugverbot für die syrische Luftwaffe

Er begründete dies in erster Linie damit, dass Lawrow gesagt habe, man solle ohne Vorbedingungen reden. Und in zweiter Linie mit dem Vorwurf, dass die russische Regierung die Wahrheit verdrehe und getroffene Abmachungen vereitle. Als weitere Spoiler des Prozesses zur Eindämmung der Kriegshandlungen nannte Kerry im Lauf seiner Ausführungen die syrische Regierung, wie auch die Opposition und - in Andeutungen - ungenannte Proxystaaten. Das ist wichtig.

Denn es gibt eine Vorbedingung jeglicher Gespräche über einen Friedens-oder Transformationsprozess in Syrien, von welcher der öffentliche und strategische Erfolg dieser US-Regierung abhängt. Es ist die Einrichtung von Zonen, in denen die syrische Armee keine Luftangriffe fliegen darf. Die Einrichtung einer Art No-Fly-Zone war schon in den ersten Konzepten, die bekannt wurden, zentral (vgl. Putin und Kerry: Keine Einigung über Vorgehen gegen al-Nusra).
Wie wichtig dies ist, untermauerte Kerry gestern erneut an mehreren Stellen seiner Rede, sehr deutlich, drängend und hemdsärmelig:
So we need to get to the prohibition on flying, my friends.

Das ist das Gravitationszentrum der Rhetorik Kerrys. Darum kreisen seine Vorwürfe gegen die syrische Regierung und Russlands Militäreinsatz auf verschiedenen Ebenen. Sie werden allesamt von breiter Medienbegleitung unterstützt, so kann man sie anhand von Medienschlagworten aufzählen: der Fassbombenvorwurf (Barrel Bombs), der Vorwurf der Bomben auf Krankenhäuser und der Vorwurf der Bomben auf den UN-Hilfskonvoi. 

US-Außenminister John Kerry bei seiner Rede im UN-Sicherheitsrat

Ihnen gemeinsam ist der Vorwurf einer Brutalität ohnegleichen. In den Medienberichten zu den Bombardements taucht regelmäßig die Androhung einer Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen auf.

Appell an das Gefühl, nicht an den Verstand

Wer da noch etwas gegen Flugverbotszonen für die syrische Luftwaffe in ihrem Hoheitsgebiet einzuwenden hat, muss ein unbelehrbarer, hartherziger, zynischer Ideologe sein. Das ist der emotionale Schluss, den der überwiegende Teil der Berichterstattung und ihre Bilder aufdrängen.

Kerrys Rede ist genau darauf ausgerichtet, er appelliert an Mitgefühl mit der syrischen Bevölkerung und entfacht die Wut auf die "Bombenwerfer". Dabei achtet er sehr darauf, wichtige Akteure im Hintergrund zu lassen, die aber unbedingt in das vollständige Bild hineingehören.

Aber Kerry beansprucht, von Fakten zu reden. Er kündigt die Lieferung von Fakten an, in der gestrigen Rede Fakten über Angriffe auf Krankenhäuser in Syrien. Man muss darauf warten. Auch beim aktuellen Erregungsanlass, dem Angriff auf den Hilfskonvoi. 

Das Weiße Haus hatte gestern über den Spezialisten für strategische Kommunikation, Ben Rhodes, schwere Vorwürfe an Russland gerichtet: Es seien nach vorläufigen, aber auf Aufklärung beruhende Erkenntnissen, russische Flugzeuge gewesen, die den UN-Hilfskonvoi aus der Luft angegriffen haben (Angriff auf den Hilfskonvoi: Russland unter Verdacht). Die Beweise dafür blieb er schuldig. 

Russland hielt den Anschuldigungen von Anfang an entgegen, dass weder russische noch syrische Flugzeuge den Konvoi angegriffen hatten. Kerry legte in seiner Rede nach. Die Vertreter Russlands hätten widersprüchliche Aussagen gemacht, sie würden die Sache verdunkeln ("obfuscating facts"). Bei seinen Vorwürfen ging Kerry, um es gelinde auszudrücken, nicht sehr präzise vor.

Kerrys Vorwürfe gegen Russland

Er warf dem Kreml-Sprecher Dmitry Peskov vor, dass er behauptet habe, der Angriff auf den Konvoi sei "irgendwie notwendig gewesen als Reaktion auf einen Angriff der al-Nusra". Eine solche Äußerung findet sich nicht in offiziellen Mitteilungen des Kreml-Sprechers. Hat er sie im persönlichen Gespräch mit Kerry gemacht? 

Seit der ersten offiziellen Stellungnahme hatte Russland erklärt, dass es keinen Angriff auf den Konvoi geflogen habe. 

Später, so Kerry, habe Russland eine andere Version geboten. Das Verteidigungsministerium habe behauptet, dass ein Milizen-Fahrzeug mit einem Mörser den Konvoi begleitet habe. Dafür habe man aber keine Beweise gesehen. 

Das russische Verteidigungsministerium hatte Luftaufnahmen veröffentlicht, auf dem ein solches Fahrzeug samt Anhänger zu sehen war, das neben den Lastwagen entlang fuhr. 

In jedem Fall, so Kerry, würde das noch nicht eine Verletzung der Waffenruhe bedeuten, womit er Recht hat - und Unrecht. Denn nicht umsonst hatten die USA und Russland in ihren Abmachungen bestimmt, dass neuralgische Versorgungspunkte frei sein müssten von militärischer Präsenz. Nun ist die Straße zwischen Idlib und Aleppo konkret als ein solcher Punkt ausgewiesen, aber sie ist auf der Versorgungslinie nach Ramuseh, das ausgewiesen ist. Die Präsenz von Milizen verstößt gegen das, worauf die Abmachung abzielt: die ungestörte Versorgung. 

Dann argumentiert Kerry damit, dass ein Mörser, der sich allem Anschein nach auf dem Anhänger des Fahrzeugs befand, niemals den Schaden anrichten könnte, der bei den Trucks verursacht wurde. 

Das appelliert an die Naivität seiner Zuhörer. Das hat nämlich niemand behauptet. Das Argument soll Glauben machen, dass das Fahrzeug das einzige seiner Art war. Die Gegend wird von Milizen kontrolliert. Wenn Kerry von Waffenfeuer spricht, das zum Zeitpunkt des Abladens der Hilfsgüter zu hören war und von Zeugen berichtet wurde, so kann das als Hinweis gesehen werden, dass dort nicht nur eine einzige Artillerie feuerte.

Russland kündigt Untersuchung an - "Kerry verdreht Worte"

Von russischer Seite wird Kerry entgegengehalten, dass er Aussagen verdreht habe. Man kündigt eine genaue Untersuchung an und will Fakten beibringen. Auch Lawrow äußerte sich entsprechend. 

Indessen kursieren im Netz, in den sozialen Netzwerken, die Hintergrundmusik zur Berichterstattung machen (nicht nur der IS weiß, wie wichtig Twitter ist), die bizarrsten "Beweise" für einen Bombenabwurf. Was allergrößten Argwohn weckt, dass hier eine Kampagne gefahren wird.

Die Nutznießer: Al-Nusra, Ahrar al-Sham und Verbündete

Nutznießer davon sind die USA und die Oppositionsallianzen um die al-Nusra-Front und Ahrar al-Sham. Die USA, weil mit der Erregung über den Angriff auf den Konvoi ihr - ob absichtlich oder irrtümlich, in jedem Fall waghalsiger - Bruch der Waffenruhe in Deir ez-Zour überdeckt wird. Ebenfalls überdeckt wird mit dieser Aufregeung ein politisches Versagen, nämlich die Banden der Opposition unter Kontrolle zu bringen. 

Der Angriff auf den Konvoi ereignete sich just zu dem Zeitpunkt, als die Sache mit dem US-Einfluss auf die Opposition kritisch wurde. Die "gute" sollte sich von der "bösen" trennen, amerikanisch-russische Angriffe sollten vorbereitet werden. Doch gab es keinerlei auffällige Separationsbewegungen. 

Die Frage, wie groß der Einfluss der USA auf die Gruppen bzw. ihre Sponsor- oder Schutzmächte in der Türkei, in Saudi-Arabien oder in anderen Golfstaaten ist, wurde drängender. Daher auch der Verweis Kerrys in seiner Rede darauf, dass die Proxis nicht richtig mitspielen beim Friedensprozess.

Man könnte sich auch Fragen dazu stellen, wie groß der Wille der USA überhaupt war oder ist, diese Trennung durchzusetzen. Sie läuft nämlich gegen die Interessen ihrer Partner. An der Separation aber hängen der Erfolg der Waffenruhe und damit der Friedensprozess.

Der Fluch der bösen Tat

Die Oppositionsführer, um die sich, wie sich zeigte, mindestens drei Viertel aller Milizen sammeln, al-Nusra und Ahrar al-Sham, machten schnell deutlich, dass sie nicht gewillt sind, sich an die Waffenruhe und die anderen Abmachungen zu halten. Vertreter der Opposition erklärten zudem, dass sie auch gegen die Hilfslieferungen seien. Sie wollen einen militärischen Erfolg, nämlich den Abzug der syrischen Truppen aus "Belagerungspositionen" im Südwesten Aleppos. 

Das Interesse der bewaffneten Opposition an der Sabotage der ersten Hilfslieferung ist weitaus größer und deutlicher als das Interesse der syrischen Regierung oder der russischen.

Es ist der "Fluch der bösen Tat", wie dies der Journalist Peter Scholl-Latour so genannt hat, mit dem die USA zu kämpfen hat und weshalb sie nun mehr und mehr in einen Panikmodus gerät. 

Ob direkt über die CIA oder indirekt über die Partner, zuvorderst Saudi-Arabien und die Türkei, sie haben sich seit mehreren Jahren in Syrien eingemischt und dabei auf eine Seite gesetzt, die das Land zu einem Pandämonium gemacht hat: islamistische Gegner der syrischen Regierung, die mit US-Unterstützung einen Dschihad angefangen haben, den die USA nicht mehr eindämmen können.

Das späte Erwachen

Kerry ist spät aufgewacht und hat erst vor ein paar Wochen damit angefangen, die die al-Nusra-Front als das zu bezeichnen, was sie ist eine al-Qaida-Terrorgruppe. Noch immer aber lässt er eine Miliz, so gut es ihm möglich ist, aus dem Bild heraus: Ahrar al-Sham. Die Gruppe erklärte vor ein paar Tagen, dass eine Zusammenarbeit mit der Türkei vollkommen mit ihren Grundsätzen vereinbar ist. Das ist nicht überraschend, aber dennoch signifikant. Demnächst wird die kämpferische Allianz zwischen der Türkei und den "syrischen Taliban" mit al-Qaida-Anschluss offiziell.

Der Schluss daraus: Die Milizen folgen ihrem eigenen Ziel, der "islamistischen Revolution" in Syrien, im Klartext, dem Dschihad gegen die Regierung Bashar al-Assad. Dass nun die Regierung in Damaskus nicht sonderlich darauf erpicht ist, diese Gruppen zu verschonen, ist nachvollziehbar, ebenso wie der Argwohn gegen deren Tricks der Verschleierung und der Bildung neuer Einfallschneisen in Syrien, etwa mit Einrichtung einer Flugverbotszone und Schutzräumen, worauf die Türkei seit Monaten drängt.

Wenn nun die Milizen, konfrontiert mit der Aussicht, bombardiert zu werden oder eroberte Gebiete aufzugeben, stattdessen auf ihre militärische Eigenmächtigkeit und bessere Bündnispartner als die USA setzen, so schwimmen der Regierung in Washington die Felle weg. Der Norden Syriens ist das Einflussgebiet, das man in Washington halten wollte, allein schon, um Russland Paroli zu bieten und den Kritikern im Homeland. Das geht nur mit einer Opposition, die sich auch entsprechend untertänig verhält. Das tut sie nicht. Sie gibt sich auch nicht mehr den Anschein.

So trägt sie auch nicht zu einem diplomatischen Erfolg bei, der Obamas Murks in Syrien ein bisschen verschleiert hätte.

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