Liberale und unabhängige Stimmen in der Türkei werden
unterdrückt. Zum Beispiel Şahin Alpay. Die Regierung Erdoğan hat ihn
einfach ins Gefängnis geworfen. Ohne Anklage.
Silivri ist
das Hochsicherheitsgefängnis im Westen Istanbuls. Der Knast für ganz
schwere Fälle. 13 Wochen schon sitzt Şahin Alpay in diesem Gefängnis. Er ist einer von Hunderten Journalisten und Wissenschaftlern, die der türkische Staat in Haft gesteckt hat. Alpay wurde kurz nach dem Putschversuch vom 15. Juli von zu Hause abgeholt und inhaftiert.
Alpay lehrte
Politikwissenschaft an der Bahçeşehir-Universität. Mit seinen Kolumnen
und Fernsehauftritten war der 72-Jährige eine der wichtigen liberalen
Stimmen der Türkei. Es sind genau diese unabhängigen Denker und freien
Stimmen, die vor allem seit dem Putschversuch eingesperrt und erstickt
werden. Die Regierung behauptet, sie wolle die Verantwortlichen des
Putsches zur Rechenschaft ziehen. Doch kaum eine Verhaftung wirkt so
absurd wie die von Şahin Alpay. Sein Leben steht für den Kampf gegen
Putsche in der Türkei. Und deshalb steht seine Haft symbolisch für
vieles, was in der Türkei gerade schiefläuft.
Şahin Alpay war ein
Linker, ein Maoist, als die Armee im Putsch vom 12. März 1971 auf die
Straßen ging. Sie machte Jagd auf Linke. Alpay tauchte unter, als die
Häscher ihn per Rundfunkdurchsagen suchen ließen. Er floh, zunächst nach
Syrien und Libanon, wo er zusammen mit PLO-Kämpfern trainierte, später
ging er ins wohltemperiert linke Schweden. Dort promovierte er und ließ
sich in moderater Umgebung zum Sozialdemokraten umfärben, bevor er
zurückkehrte.
Das
half ihm nicht, als die Armee am 12. September 1980 erneut aus den
Kasernen drang. General Kenan Evren pries die Einheit der Nation. Im
Radio erklang "Vorwärts, o Türke, immer vorwärts", während Journalisten
und Linke massenhaft in den Kerkern verschwanden.
Şahin Alpay wurde
verhaftet und saß in Izmir ein. Er wurde Zeuge von Folter und Quälerei,
sah die Instrumente, Elektrostäbe und Knüppel, mit denen Polizisten auf
die Fersen eindroschen. Doch er hatte Glück. Verwandte setzten sich
erfolgreich für Alpay ein, er kam nach zehn Tagen frei. Als Kommentator
blieb Alpay ein scharfer Gegner der säkular-kemalistischen Putschlogik
und ein Kritiker des Militärs. Auch den Coup von 1998 verurteilte er.
Heute kehrt sich die
Geschichte um. Şahin Alpay sitzt im Hochsicherheitsgefängnis von
Silivri, nachdem Armeeputschisten eine Niederlage erlitten haben. Er
sitzt in einer Zelle mit zwei anderen Personen. Wochenlang durfte er
weder Bücher noch Fernseher haben. Erst jetzt hat man ihm einen
Fernseher in die Zelle gestellt, er durfte sich diese Woche erstmals
Bücher aus der Gefängnisbücherei ausleihen. Die Zelle darf er nicht
verlassen, nicht einmal für einen Spaziergang im Gefängnishof.
Şahin Alpay hat keine
Anklageschrift erhalten. So wie ihm geht es Zehntausenden Inhaftierten.
Sie warten ohne jede Erklärung. Alpay bekam einen Hinweis. Im Gefängnis
gab man ihm ein Schreiben, in dem man ihm vorwarf, er habe 2013 in der
Zeitung Zaman die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und
die Präsidentenfamilie kommentiert. Alpay hatte schon in vielen
Zeitungen geschrieben, linken, liberalen. In den vergangenen Jahren
wurden seine Kolumnen in der konservativen Zaman
veröffentlicht, einer Zeitung, in der viele liberale Intellektuelle
Zuflucht fanden, vor allem seitdem 2011 der Druck der Regierung auf
viele Zeitungen wuchs. Zaman aber gehört Unternehmern, die Fethullah Gülen nahe stehen. Der Prediger wird vom türkischen Staat beschuldigt, den Putsch angezettelt zu haben.
Alpay hat Präsident
Tayyip Erdoğan in der Vergangenheit gegen Coup-Versuche verteidigt, bei
der Putschdrohung des Militärs 2007 und bei dem Versuch der Justiz, die
AKP-Regierung 2008 aus dem Amt zu kippen. Damals stand Erdoğan für
Reformen, aber 2011 wurde er zunehmend autoritärer – wie einst die
kemalistischen Militärs. Damit wuchs Alpays Kritik. Er nannte Erdoğan
einen "Islamokemalisten". Das trifft es bestens, und das ging bei
Erdoğan unter die Haut. Der Präsident sorgte schon für Alpays Entlassung
von der Universität. Jetzt sitzt Alpay in Silivri und fragt sich, ob
die Mächtigen ihn vielleicht doch wieder freilassen wie damals 1980.
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