Analysten: "Erdogan will nach dem Fall Aleppos sein Gesicht wahren"

Ein türkisches Panzerfahrzeug vom Typ ACV-15, fotografiert von einer FSA-Einheit nördlich von al-Bab.
Ein türkisches Panzerfahrzeug vom Typ ACV-15, fotografiert von einer FSA-Einheit nördlich von al-Bab.
Die jüngste Aussage des türkischen Präsidenten Erdogan, die türkische Armee sei zum Sturz des Präsidenten Baschar al-Assad in Syrien, wirft weiterhin Fragen auf. RT Deutsch sprach dazu mit einigen Experten, darunter dem Gründer des Fachmagazins Conflict News. 
 
Von Ali Özkök

"Wir sind in Syrien eingezogen, um die Herrschaft des Tyrannen al-Assad zu beenden, der Staatsterror betreibt. Es gibt keinen anderen Grund", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beim ersten interparlamentarischen Jerusalem-Symposium am Dienstag in Istanbul.


Erdogan sagte, die Türkei verfolge keine territorialen Ansprüche in Syrien. Stattdessen wolle sie die Macht dem syrischen Volk übergeben. Ankara wolle "Gerechtigkeit" wiederherstellen, fügte Erdogan hinzu.
Warum sind wir eingerückt? Wir gieren nicht nach syrischem Boden. Es geht darum, den echten Besitzern Land zu geben. Man kann sagen, dass wir die Gerechtigkeit wiederherstellen, behauptete das Staatsoberhaupt.
Er erklärte weiter, dass laut seiner Einschätzung fast eine Million Menschen im syrischen Konflikt gestorben seien. Bislang gibt es keine Beobachtungsstelle, die eine solche Zahl bestätigen würde. Die jüngsten UN-Schätzungen liegen bei 400.000 Menschen, die dem seit dem Jahr 2011 wütenden Bürgerkrieg zum Opfer gefallen sind.

Erdogan sagte, die Türkei könne "das unendliche Töten von Zivilisten nicht mehr ertragen". Deshalb sei sie "gemeinsam mit der Freien Syrischen Armee in Syrien eingerückt".


Im Gespräch mit RT Deutsch argumentierte der Gründer des renommierten Online-Fachmagazins Conflict News, Gissur Simonarson, dass die Rede des türkischen Präsidenten "allein dazu dient, dem innenpolitischen Druck nachzugeben". Er sagte:
Die Bevölkerung in der Türkei ist verärgert, dass Erdogan Aleppo fallenlässt, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. In einer Strategie zur Wahrung seines Gesichts machte Erdogan nun diese Stellungnahmen.
In Bezug auf den Kollaps der Rebellen in Ost-Aleppo und sich abzeichnende Frontverschiebungen meint Simonarson:
Hätte Erdogan wirklich al-Assad stürzen wollen, dann wäre Aleppo nicht gefallen. Er hätte das "Schutzschild Euphrat" den Fokus darauf legen lassen, die Belagerung zu durchbrechen. Aber das tat er nicht.
Vielmehr könne sich die Türkei nun auf die Einnahme von al-Bab konzentrieren, erläutert der Chefredakteur. Er fügt hinzu:
Die einzige große Möglichkeit, die Erdogan hat, ist die Befreiung al-Babs vom IS. Aber soweit wir wissen, wollen Russland und al-Assad ihn dort nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt klappen könnte. Die kurdischen YPG und die syrische Armee haben sich miteinander verbündet. Sie wappnen sich für eine eigene Offensive auf die Stadt.
Dem widerspricht der Militäranalyst Qalaat al-Mudiq auf Anfrage von RT Deutsch:
Auch wenn sich nicht viel ändern sollte: Die pro-türkischen Rebellen werden mit Nachdruck auf al-Bab vorrücken. Die Frage ist, was "Schutzschild Euphrat" im südlichen Umfeld von Al-Bab machen wird. Wenn die syrische Armee und die YPG die Dörfer südlich von al-Bab einnehmen, wird die türkische Operation in Syrien ab diesem Punkt gestoppt.
Bildquelle: SANA

Außerdem schloss der Militärexperte nicht aus, dass Ankara die Rebellen in Südaleppo und Idlib am Ende wieder in irgendeiner Weise unterstützen könnte, wenn auch nicht auf militärische Weise.
Die andere Möglichkeit wäre, dass Ankara den Rebellen südlich und östlich der Stadt Aleppo wieder die Hand reicht. Eine direkte militärische Unterstützung wird es aber nicht geben. Die Stadt Aleppo selbst bleibt unter dem Schirm der syrischen und russischen Armee, sagte al-Mudiq.
Das Zentrum für politische und militärische Analysen "Warfare Worldwide" übermittelte RT Deutsch detaillierte Informationen über die aktuelle Frontlage der pro-türkischen Rebellen vor al-Bab. In den vergangenen Wochen sei die Offensive demnach ins Stocken geraten. "Warfare Worldwide" schrieb:
Die türkische Armee führt in Nordsyrien keine eigene Offensive mit allen Mitteln. Vielmehr hat man es mit einer mehrheitlich FSA-geprägten Einheit zu tun, die mit türkischer Luftunterstützung und Spezialeinheiten auf dem Boden agiert. Diese FSA-Einheiten sind jedoch nicht besonders professionell und verlangsamen die Offensive sichtlich.
Das Zentrum bemerkte aber auch:
Die Terrormiliz "Islamischer Staat" ist ein schwieriger Gegner. Die Organisation beherrscht wie keine andere im Nahen Osten den Guerilla-Krieg. Wie in Palmyra bewiesen, liegen ihre Stärken im Umgang mit improvisierten Sprengsätzen. Diese Fähigkeiten verlangsamen nun auch die laufenden Operationen der Türken.
"Warfare Worldwide" stellte heraus, dass insbesondere das türkische Verhältnis zu Russland in diesem Konflikt eine wichtige Rolle spiele. So heißt es:
Die Luftunterstützung der Türken für die Rebellen ist eine schwierige Frage. Russland kann wegen seiner Überlegenheit in der Luftverteidigung die Türkei jederzeit aus Syrien drängen. Deshalb muss die Türkei zweimal überlegen, wen sie in Syrien bombardiert.
Das Zentrum zieht aus den Aussagen Erdogans ganz eigene Schlüsse.
Wir vermuten, dass Erdogan solche Äußerungen nicht ohne Koordinierung mit Moskau fallen lässt. Die Möglichkeit besteht, dass wir es in Syrien mit dem Beginn einer echten Operation zu tun bekommen.
Türkische Soldaten haben bereits am 24. August im Rahmen der Operation "Schutzschild Euphrat" mit einer Intervention in Syrien begonnen. Die Türkei positionierte dabei Bodentruppen und unterstützt diese aus der Luft. Ziel Ankaras ist es nach eigenen Angaben, die Terrormiliz "Islamischer Staat" und die Kurden-Organisation PYD/YPG aus dem Grenzgebiet zwischen Azez und Dscharablus zu verdrängen.

Bildquelle: YPG Leak

Kritiker Ankaras sehen hinter dem Eingriff der Türkei in Syrien eine gezielte Strategie zur Bekämpfung des Unabhängigkeitswillens kurdischer PKK-Ableger in der Region. Die PYD/YPG wird als Tochterorganisation der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) gehandelt. Diese ist in den USA, der EU und der Türkei als terroristische Vereinigung verboten. Die Türkei sieht ihre Sicherheitsinteressen gefährdet, dadurch dass PKK-nahe Kurdenverbände erstarken.

In Südost-Anatolien und im Irak bekämpfen der türkische Staat und die PKK einander seit 2015 erneut, nachdem Bestrebungen gescheiterten waren, den seit 1984 andauernden bewaffneten Konflikt durch Verhandlungen zu beenden.

Im vergangenen Monat Oktober soll die türkische Luftwaffe dem Generalstab zufolge in nur einer Nacht 160 bis 200 YPG-Kämpfer getötet haben. Insgesamt führte die Luftwaffe in dieser Nacht gegen die politisch weit linksgerichtete Kurden-Miliz 26 Luftangriffe aus. Die Angriffe verschlechterten auch die Beziehungen zu Damaskus, das bis zu diesem Zeitpunkt die türkische Militärpräsenz in Syrien stillschweigend hinnahm.

Die Türkei wurde am 22. Oktober von russischer und syrischer Seite aufgefordert, ihre Luftoperationen zwischenzeitlich zu stoppen. Auf der anderen Seite beschuldigte Ankara die syrische Armee, FSA-Kämpfer im Norden von Aleppo anzugreifen. Am 24. November soll die syrische Armee nach Angaben Ankaras Angehörige türkischer Spezialeinheiten bei einem Luftangriff vor der Stadt al-Bab getötet haben.

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