Evgeny Morozov: Fake News sind ein Produkt des digitalen Kapitalismus

Evgeny Morozov: Fake News sind ein Produkt des digitalen Kapitalismus
Evgeny Morozov auf einem Panel der Rosa-Luxemburg-Stiftung im April 2015 in Berlin.
Der weißrussische Publizist Evgeny Morozov hat in die Debatte um Fake News eingegriffen. Das Problem falscher Nachrichten ist eine Konsequenz des digitalen Kapitalismus, so der berühmte Computerexperte, und rechnet mit den Mainstream-Medien ab. 
 
Die Demokratie ertrinkt in Fake News. Diesen Eindruck erwecken all jene, die im Jahr 2016 auf der Verliererseite standen. Diese Einschätzung hat der Experte für Digitalisierung, Evgeny Morozov. Egal ob es um den Brexit oder die US-Wahlen geht, bis hin zum Referendum in Italien.

Offenbar, so Morozov ironisch, verlieren "all diese ernsten, ehrlichen und unbequem rationalen Erwachsenen" die Wahlen, weil es eine "gefährliche Epidemie von Fake News, Internet-Memes und lustigen YouTube-Videos" gibt. Für die politische Klasse bestehe das Problem offenbar nicht darin, dass die Titanic des demokratischen Kapitalismus in gefährlichen Gewässern segelt. Sie reden sich ein, dass in einer "anständigen Gesellschaft" erst gar nicht erörtert werden darf, ob die Titanic möglicherweise sinken kann. Kritische Erwägungen behandeln sie als Falschberichte über große Eisberge am Horizont".


Evgeny Morozov stammt eigentlich aus Weißrussland. Er gehört zu den wenigen osteuropäischen Intellektuellen, die auch in westlichen Medien Gehör finden. In der globalen Öffentlichkeit macht der Informatiker immer wieder mit kritischen Beiträgen zum Internet auf sich aufmerksam. Das weltweite digitale Netz sei nicht per se demokratisch, warnt Morozov seit Jahren: Insbesondere die Monopole der großen amerikanischen Computerhersteller bedrohen die freie Meinungsäußerung.

Aus dieser Perspektive greift Morozov in einem aktuellen Guardian-Beitrag nun die unbeholfenen Maßnahmen gegen angebliche Fake News auf. Er stellt einen kleinen Überblick über missratene Lösungsvorschläge zusammen:
Verbot von Internet-Memes (Vorschlag der spanischen Regierungspartei); die Bildung von Expertenkommissionen zur Prüfung der Wahrhaftigkeit von Nachrichten (ein Lösungsvorschlag, den Italiens oberster Kartellwächter unterbreitet); die Errichtung von Verteidigungszentren gegen Fake News bei gleichzeitigen Bußgeldern für Twitter und Facebook, auf deren Plattformen man sie verbreitet (ein Vorschlag aus der deutschen Regierung).
Besonders der letzte Vorschlag sei "ein großartiger Ansporn für Facebook", die Meinungsäußerungsfreiheit zu fördern, scherzt der Technik-Experte, und erinnert daran, dass Facebook jüngst ein Foto einer nackten Neptun-Statue in der Innenstadt von Bologna zensiert hat.
Ein kleiner Tipp für autoritäre Regierungen: Wollt ihr unbeanstandet Onlinezensur betreiben, deklariert einfach alle Artikel, die euch nicht gefallen, als Fake News und niemand im Westen wird sich jemals mehr darüber beschweren.
Das Fake-News-Narrativ ist selbst ein Fake
Möglicherweise sind Fake News vielmehr die Konsequenz tieferer, struktureller Missstände, die sich bereits seit längerer Zeit abzeichnen. Es sei kaum zu leugnen, dass es eine Krise gibt, warnt Morozov.  Die westlichen Eliten würden diese strukturellen Probleme jedoch nicht zu Kenntnis nehmen.
Ihr Fake-News-Narrativ ist selbst falsch: Er ist eine oberflächliche Erklärung eines komplexen, systemischen Problems, dessen bloße Existenz sie immer noch leugnen. Die Leichtigkeit, mit der Institutionen des Mainstreams, von den Regierungsparteien über die Thinktanks bis zu den Medien, dazu übergegangen sind, ausschließlich Fake News als Kern der sich ausbreitenden Krise zu identifizieren, sagt viel über die hermetische Abgeschlossenheit ihres Weltbildes.
Schwindelerregende Geschichte: BILD muss Fake News eingestehen.

Die westliche Gesellschaften würden weniger dadurch bedroht, dass in fremden Ländern illiberale Demokratien existieren. Vielmehr besteht das Problem in einer "unreifen Demokratie im eigenen Land". Diese Unreife würden die Eliten fast täglich unter Beweis stellen, kritisiert Morozov. Mit Blick auf die Medien manifestiere sie sich vor allem darin, dass die offensichtliche Realität geleugnet wird.

Zum einen ignorieren die Debatten die wirtschaftlichen Ursachen der meisten heutigen Probleme. Zudem leugnen sie die "tiefgreifenden Korruption im Bereich der professionellen Expertise", so sein Seitenhieb auf zahllose Medienexperten, welche die Geschichte der Fake News weitererzählen

Verleugnung der ökonomischen Ursachen
Wie intensiv wirtschaftliche Interessen ausgeblendet werden, zeigt sich, wenn die Politik in erster Linie kulturelle Faktoren wie "Rassismus" oder die "Unwissenheit von Wählern" heranzieht. Der zweite Typ - unfähige Experten - ignoriert standhaft den immensen Frust, den viele Menschen gegenüber bestehenden Institutionen hegen. Dieser rührt, so Morozov, nicht daher, dass sie die volle Wahrheit über deren Funktionsweise nicht kennen, sondern - im Gegenteil -, dass sie diese nur allzu gut kennen.

Von diesen "beiden Leugnungstatbeständen geblendet", versuchen Politiker mit Konzepten zu reagieren, welche die Wähler ohnehin satt haben: mehr Experten, mehr Zentralisierung, mehr Regulierung. Aber weil sie nicht in der Lage sind, in Kategorien der politischen Ökonomie zu denken, regulieren sie am Ende unweigerlich wieder das Falsche.
Die moralische Panik rund um Fake News zeigt, wie diese beiden Leugnungshaltungen die Demokratie zu permanenter Unreife verurteilen. Die Weigerung, die Fake-News-Krise mit ihren ökonomischen Ursachen in Verbindung zu bringen, macht den Kreml zu jedermanns liebstem Sündenbock – und nicht das wenig nachhaltige Geschäftsmodell des digitalen Kapitalismus.

Der Medien- und Technikexperte stellt nüchtern fest, dass keine wie auch immer geartete ausländische Einmischung – durch Russland oder welche Regierung auch immer – in der Lage wäre, virale News in diesem Ausmaß zu produzieren. Sie verfügen nämlich nicht über die mächtige digitale Infrastruktur, die es ermöglichen würde, die globale Kommunikation zu beeinflussen.
Das Problem sind nicht die Fake News, sondern die Geschwindigkeit und Leichtigkeit ihrer Verbreitung, und diese beruhen darauf, dass der heutige digitale Kapitalismus es – siehe Google und Facebook - extrem profitabel macht, falsche, aber klickträchtige Narrative zu produzieren und zirkulieren zu lassen.
Käuflichkeit von Expertenwissen
Um an der aktuellen Situation etwas zu ändern, müsste das Establishment seine Verweigerungshaltung aufgeben und sich endlich der politischen Ökonomie der Kommunikation widmen, rät Morozov. Die offensichtliche Schwierigkeit: Es waren genau die Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Regierungen, welche die Genialität des Silicon Valleys feierten, die Telekommunikation privatisierten und eine sehr laxe Haltung bezüglich der Durchsetzung von Kartellgesetzen an den Tag legten.

Zudem finden sich in der politischen Klasse kaum Experten, die einen realistische und unabhängige Sichtweise auf die Krise bieten. Morozov spricht von der "Korruption im Bereich des heutigen Expertenwissens":
Wenn Thinktanks bereitwillig Geld von ausländischen Regierungen annehmen; Energiefirmen zweifelhafte Forschungen zum Klimawandel finanzieren; wenn sogar die Königin von England – was für eine Populistin! – den gesamten Berufsstand der Ökonomen infrage stellt; wenn die Medien regelmäßig Marschbefehle von PR-Agenturen und politischen Spindoktoren entgegennehmen; wenn Finanzregulierer und EU-Kommissionsmitglieder ihre Ämter verlassen, um für die Wall Street zu arbeiten – kann man es dann tatsächlich Bürgern verübeln, wenn sie gegenüber "Experten" skeptisch werden?
Der Schriftzug des BND am Eingang der Zentrale in Berlin.

Das Schlimmste sei schließlich, wenn ausgerechnet die alten Medien sich über Fake News beschweren, obwohl sie selbst in der Logik des digitalen Publizierens dubiose Nachrichten verbreiten. Man blicke nur auf die Washington Post, empfiehlt Morozov als negatives Beispiel, eine der wenigen Zeitungen, die heute noch von sich behauptet, profitabel zu sein. Was sie aber an Profitabilität gewonnen hat, habe sie jedoch an Glaubwürdigkeit verloren.

Die Demokratie ertrinkt in der Heuchelei der Eliten
Und dann bereitet Evgeny Morozov genüßlich den systematischen Schwachsinn auf, den die Washington Post in den vergangenen Jahren veröffentlichte. Die Post prangerte zahlreiche Online-Publikationen als vermeintliche russische Propaganda an. Dann warnte sie vor folgenschweren russischen Cyberattacken auf ein Kraftwerk in Vermont.

Andere selbst ernannte Qualitätsmedien wie der Observer übernahmen den Falschbericht. Mittlerweile sei klar, dass diese Angriffe gar nicht stattgefunden haben. Die Washington Post hatte es nicht einmal für der Mühe wert befunden, mit dem Kraftwerksbetreiber Rücksprache zu halten.
Offenbar hat eine Wirtschaft, die von Onlinewerbung dominiert wird, ihre eigene Theorie über die Wahrheit hervorgebracht: Wahrheit ist, was die meisten Blicke anzieht, vermutet Morozov.
Wenn nun professionelle Journalisten dieses Problem beklagen, ohne die eigene Mitverantwortung einzugestehen, wird dies das Vertrauen in Expertenmeinungen weiter unterminieren, sagt der Internet-Kritiker voraus. Es könne sein, dass die Demokratie in Fake News ertrinkt, es kann auch nicht sein. Sie ertrinkt aber in jedem Fall in der Heuchelei von Eliten.

Evgeny Morozov vermutet, dass die Eliten nie aufhören werden, nach innovativen Lösungen für das Problem der Fake News zu suchen. So wenig wie sie je aufgehört haben, nach innovativen Lösungen zum Klimawandel zu suchen. Die beiden Themen weisen auch eine gewisse Ähnlichkeit auf: So wie der Klimawandel ein natürliches Nebenprodukt des fossilen Kapitalismus ist, sind Fake News das Nebenprodukt des digitalen Kapitalismus.

Die einzige Lösung für das Problem der Fake News wäre es, die Grundlagen des digitalen Kapitalismus vollständig zu überdenken:
Wir müssen die Onlinewerbung – und deren destruktiven Drang zum Click and Share – weniger zentral für unser Leben, unsere Arbeit und unsere Kommunikation machen. Gleichzeitig müssen wir mehr Entscheidungsbefugnisse an die Bürger übertragen – und nicht an korrumpierbare Experten oder windige Konzerne.
Das bedeute, eine Welt aufzubauen, in der Facebook und Google weder große Macht ausüben noch die Lösung von Problemen monopolisieren. Das wäre eine herausfordernde Aufgabe für reife Demokratien.

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