Eurovision Song Contest: Die politische Instrumentalisierung eines musikalischen Wettbewerbs

Eurovision Song Contest: Die politische Instrumentalisierung eines musikalischen Wettbewerbs
Martialische Ästhetik: Für die Ukraine sang O. Torvald mit seinem Lied "Time" im Semi-Finale, Kiew, 10. Mai 2017.
Es ist ebenso erstaunlich wie erschreckend, dass die überwiegend negative Wahrnehmung Russlands mit Blick auf die Austragung des Eurovision Song Contestes (ESC) in Kiew das vorherrschende Narrativ der medialen Berichterstattung ist. 
 
von Anastasia Müller

Spätestens mit dem Sieg der ukrainischen Sängerin Jamala, die mit dem appellativen Titel ihres Liedes "1944" an die stalinistischen Vertreibungen der Krimtataren erinnert hat, ist die politische Instrumentalisierung eines musikalischen Wettbewerbs offen zutage getreten. Die ursprüngliche Absicht, die kulturelle Vielfalt der europäischen Länder zum Anlass zu nehmen, die Völker des gesamten Europa mithilfe eines interkulturellen Dialogs miteinander zu verständigen, wurde zugunsten einer Politik der Ausgrenzung und der indoktrinären Auslegung von Fakten revidiert.

Die russische Sängerin Julia Samojlowa.

In der Tat bleibt die im Jahr 2014 erfolgte Annexion der Krim durch Russland völkerrechtlich umstritten. Zudem belastet die unkooperative Haltung Russlands in puncto Syrien und das Minsker Abkommen die ohnehin stockenden Beziehungen zwischen der EU und Russland.

Doch das gibt der pro-westlichen Regierung in Kiew um Präsident Petro Poroschenko nicht das Recht, Russland mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den Garaus zu machen und den Druck auf die europäischen Politiker zu erhöhen. Besonderes Augenmerk sollte dem Friedensprozess im Osten der Ukraine gelten, der im Sinne der amtierenden ukrainischen Regierung gelöst werden soll, nicht zuletzt um die Aufnahme des osteuropäischen Landes in den Verbund der EU zu beschleunigen.

Während der russischen Sängerin Julia Samoilowa die Einreise in die Ukraine verwehrt wurde, verwiesen Kommentatoren in deutschsprachigen Zeitungen darauf, dass es an der Zeit sei, geschlossen gegen Russland vorzugehen und sich mit der Ukraine zu solidarisieren. Der Redakteur der taz Jan Feddersen verweist auf einen angeblich bestehenden "russisch-industriellen Popmusikkomplex", als dessen Teil er die ausgeschlossene Sängerin Samoilowa identifiziert.
Die "russische Einheizerin", so Feddersen, "möchte man in der Ukraine" ohnehin "nicht sehen".
Den weiteren Vorwurf der russischen Seite, dass nicht einmal russische Journalisten eine ESC-Akkreditierung erhalten haben, räumt Feddersen mit dem Verweis auf die angebliche Kreml-Treue der russischen Journalisten aus. Die Kohärenz der Ausführungen müsste dahingehend überprüft werden, wie der unlängst veröffentlichte Facebook-Eintrag des Beraters des ukrainischen Innenministeriums Anton Geraschenko zu werten ist, der die ESC-Akkreditierung der russischen Medienvertreter wegen vormaligen unrechtmäßigen Aufhaltens auf der "ukrainischen Krim" zu annullieren drohte. Tatsächlich entzogen die Ukrainer selbst dem russischen Fotokorrespondenten der Mediagruppe "Rossija segodnja", Ramil Sitdikov, die bereits erteilte Akkreditierung.

Sängerin Lolita Miljawskaja singt zum Abschluss des Festivals

Der Mythos der Einhelligkeit, der die vermeintlich auf die europäischen Werte verpflichtete Ukraine umgibt, liegt nicht in der wahrhaftigen Solidarisierung, sondern vielmehr im Vortäuschen hehrer Ziele, der Symbolik und der Rhetorik. Großzügig wird darüber hinweggesehen, dass die bereits im Kalten Krieg bedienten Feindbilder stets ihr Ziel verfehlten.

Ohne Einbindung Russlands wird die Ukraine mittel- oder langfristig in politischer Bewegungslosigkeit verharren. Aber dies zu verstehen, und das wird nicht nur am naiven medialen Geplänkel um den einst der Kultur vorbehaltenen Song Contest sichtbar, obliegt nicht den Intellektuellen. Sie, so der amerikanische Philosoph Mark Lilla, hätten längst "die Vielfalt politisch-ideeller Verstehensmuster" zugunsten eines libertären Dogmas aufgegeben.

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