Drei Jahre IS-Kalifat: Was machte den Aufstieg der Terrormiliz “Islamischer Staat” möglich?

Drei Jahre IS-Kalifat: Was machte den Aufstieg der Terrormiliz “Islamischer Staat” möglich?
Heute vor drei Jahren rief Abu Bakr al-Bagdadi sein Kalifat unter dem Banner der Terrormiliz "Islamischer Staat" aus. Die Gründe für den Aufstieg der Dschihadisten ist facettenreich und doch eng verbunden mit der US-Invasion 2003 im Irak. 
 
von Tallha Abdulrazaq

Vor drei Jahren stieg Ibrahim Awad el-Samarrai, ein wenig bekannter irakischer Kleriker, auf die Kanzel der großen al-Nuri-Moschee im Westen der nordirakischen Stadt Mossul. Besser bekannt ist dieser Mann unter seinem Kampfnamen Abu Bakr el-Bagdadi. Von der Moschee, die heute in Trümmern liegt, rief el-Bagdadi, mit einer schwarzen Robe und einem Turban bekleidet, die wohl an die Zeit der abbasidischen Kalifen erinnern sollten, sein eigenes Kalifat aus. Er forderte den Gehorsam und Treue aller Muslime auf der ganzen Welt.

Mit dieser Rede leitete die Terrormiliz “Islamischer Staat” ihre globale Agenda des Terrors offiziell ein. Vor der Ausrufung des Kalifats fokussierte sich der IS auf territorial Eroberungen in Syrien und anschließend im Irak. Mit dem zunehmend härten Eingreifen der US-geführten Koalition gegen den IS griff die Organisation auf eine globale Terrorstrategie zurück. Der IS hat zahlreiche zivile Ziele in europäischen Städten, den Vereinigten Staaten, Russland der Türkei und zuletzt den Philippinen angegriffen.


Während das selbsternannte Kalifat um el-Bagdadi bröckelt, muss die Schlüsselfrage beantwortet werden, was den meteoritenhaften Aufstieg des IS begünstigte? Wie kann es sein, dass das politische System in Irak, das von den USA und Verbündeten ab 2003 aufgebaut wurde, so gänzlich versagte? Wie konnte eine einzelne Terrororganisation ein Drittel des ölreichen Landes in so kurzer Zeit unter eigene Kontrolle bringen?
Ein Umfeld aus Chaos und Sektierertum
Die ursprüngliche Sünde hinter dem IS-Terror war die US-geführte Invasion, die den Diktator Saddam Hussein gewaltsam stürzte und das fragile gesellschaftliche Gleichgewicht ins Wanken brachte. Es wäre zu einfach, die Entstehung allein auf Washingtons Handlungen zurückzuführen. Als das Baath-Regime zerschmettert wurde, kamen von den USA einfach keine wirklichen Pläne auf – oder sie hatten wahrscheinlich nicht die Absicht – das entstandene politische Vakuum mit einem sicheren, stabilen und echt demokratischen System zu füllen.

Stattdessen entstand ein Umfeld des Chaos und des Sektierertums. Es war die direkte Folge der US-Invasion. Washington unterstützte korrupte Exilpolitiker und solche, die sich als Schiiten am mehrheitlich sunnitischen Baath-Regime rächen wollten. Aus denen ging die heute herrschende Dawa-Partei hervor. Durch die Stärkung dieser politischen Bewegungen mit schiitischem Charakter ermöglichten die USA mehr oder weniger unbeabsichtigt den Eintritt Iran in das Spiel um die Macht im Irak.

Teheran betrachtet sich als Schutzmacht aller schiitischen Muslime, auch der Schiiten im Irak. Mit der Nähe zur konfessionellen Mehrheit im Land konnte Iran wie kein anderes Land in der Region seinen Einfluss in Bagdad zementieren. Die USA konnten nur wenig dagegen tun.

Iraks Präsident Saddam Hussein vor dem Gericht, das ihn zum Tode verurteilte, Bagdad, 1. Juli 2004.

Das Ergebnis der US-amerikanischen Irak-Politik war vorhersehbar und katastrophal. Nach immer wieder aufflammenden Spannungen formierte sich Ende 2012 eine konfessionsübergreifende, aber sunnitisch dominierte zivile Protestbewegung gegen Bagdad. Dort herrschte Premierminister Nuri al-Maliki, der als pro-iranischer Hardliner den Aufstand mit US-amerikanischer Duldung gewaltsam niederschlug.

Noch immer dient al-Maliki als Vizepräsident Iraks. Al-Maliki, der fast einen pathologischen Hass gegen Sunniten und Baathisten hat, wird von der irakischen Politik dafür angeklagt, Artikel 4 des Anti-Terrorismus-Gesetzes seit 2005 und die Entbaathifizierungserlasse missbraucht und unnötig ausgereizt zu haben. Unter US-Vormundschaft marginalisierte und zerschlug al-Maliki die sunnitische Zivilgesellschaft, die nach der US-Invasion ohnehin komplett entmachtet wurde.
Die USA legten bis 2013 weitgehend ihre Finger noch auf die sogenannte sunnitische Sahwa-Bewegung
Anstatt sich mit den Reformforderungen zu befassen, die auf breiter Front von friedlichen Demonstranten gestellt und vom populären schiitischen Prediger Muktadar el-Sadr unterstützt wurden, machte Premier al-Maliki die Proteste lieber mundtot. Dabei begingen Sicherheitskräfte, die von den USA ausgebildet wurden und unter dem Befehl Bagdads standen, zahlreiche Gräueltaten.
Beispielsweise bei der nordirakischen Stadt Hawidscha kam ein parlamentarischer Ausschuss zum Schluss, dass 44 Zivilisten darunter Kinder von Sicherheitskräften brutal getötet wurden. Einige wurden sogar, mit den Händen gefesselt, geradezu hingerichtet.

Der friedliche Protest wurde vor den Augen der internationalen Gemeinschaft niedergeschlagen. Der Westen fühlte sich nicht gezwungen zu handeln, während al-Maliki der Erhaltung seiner Macht wegen sein eigenes Volk niederschlug. Das Desinteresse der internationalen Gemeinschaft im Rücken fühlte sich Bagdad befähigt, weiter zu gehen.

Al-Maliki befahl die gewaltsame Auflösung des größten Protestcamps in Ramadi. Die Aggressionen gegen die Bevölkerung in der Provinzhauptstadt Ranadi von Anbar löste eine Welle der Gewalt in der Region aus. Dem “Islamischen Staat”, der sich inzwischen in Syrien organisierte, wurde durch die Eskalationsspirale in Anbar der perfekte Nährboden für eine Infiltrierung des Iraks gegeben.


Bemerkenswert ist, dass der IS zunächst als irakischer Ableger von al-Kaida gegründet wurde. Wenig später nannten sich die Dschihadisten um. Die Organisation nannte sich fortan “Islamischer Staat im Irak”. Der Grund, warum al-Kaida im Irak nach Syrien flüchten musste, war, dass die USA bis 2013 weitgehend ihren Finger noch auf die sogenannte sunnitische Sahwa-Bewegung legte. Das begünstigte die Formierung einer sunnitischen Miliz, die al-Kaida-Zellen selbständlich bekämpfte.
Premierminister al-Maliki löste die Organisation auf. Der irakische Al-Kaida-Ableger fand in der Zwischenzeit einen sicheren Hafen in Syrien, das in einen blutigen Bürgerkrieg abrutschte. Auf syrischem Boden konnte sich die irakische al-Kaida ungestört auf den großen Sturm in den Irak ald “Islamischer Staat” vorbereiten.

Hätte Nuri al-Maliki die Sunniten Iraks nicht regelrecht in die Ecke gezwungen und sie im Jahr 2013 bis 2014 zu einen bewaffneten Aufstand veranlasst, so ist zweifelhaft, ob der IS überhaupt in der Lage gewesen wäre, die Sunniten Iraks für seine blutige Ideologie zu gewinnen.
Washington hinderte seinen Alliierten nicht an seiner sektiererischen Politik
Eine besonders fragwürdige Rolle spielen die USA. Die Regierung in Washington forderte seinen Alliierten Nuri al-Maliki nicht auf, seine konfessionsgebundene Innenpolitik zu unterlassen. Stattdessen wurde billigend in Kauf genommen, dass der Premierminister für Loyalität zur US-Regierung freie Hand gegen die sunnitische Gemeinde kriegt.

Im Wesentlichen bedeutet es, die USA stürzten den “Schlächter von Bagdad” Saddam Hussein, aber ließen Nuri al-Maliki diktatorische Handlungen, die von der Wirkung nicht besser waren als die Herrschaft Saddam Husseins. Wie Saddam Hussein schlug Nuri al-Maliki sein eigenes Volk nieder. Der Unterschied ist, diesmal ist der starke Mann in Bagdad ein Alliierter der USA.

Die verschiedenen bewaffneten sunnitischen Gruppen wie der Generale Militärrat für irakische Revolutionäre (GMCIR) standen vor der Entscheidung, wieder gegen den IS für eine undankbare Bagdader-Regierung zu kämpfen oder die Dispute mit dem IS beizulegen und gemeinsam die Waffen gegen die besser bewaffnete irakische Armee zu kämpfen.

Die sunnitischen Stämme machten ihren Unmut deutlich und stellten sich gegen Bagdad. Diese fatale Entscheidung erlaubte es den IS, die “revolutionäre Bewegung” zu absorbieren. Der IS missbrauchte den Unmut und kanalisierte sie in einen neuen Terrorkrieg gegen Bagdad. Andere sunnitische Gruppen, die sich gegen den IS stellten, wurden entweder vom IS entwaffnet oder gingen in den Untergrund.

Nach drei Jahren steht die Terrormiliz “Islamischer Staat” vor einem Scherbenhaufen, die sie im Nord- und West-Irak hinterlässt. Am Donnerstag gab das irakische Militär bekannt, dass es die Kontrolle von gesamt Mossul übernommen hat. Sollte die irakische Armee damit weitermachen, die sunnitische Minderheit zu verfolgen, diesmal generalisiert wegen Verbindungen zum IS, dann scheint das Schiksal des Iraks dazu verurteilt zu sein, auch in Zukunft nicht zu Ruhe zu kommen.

Tallha Abdulrazaq ist Forscher am Institut für Strategie und Sicherheit an der Universität von Exeter und Gewinner des Jungforscher-Awards von Al Jazeera 2015. RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Kommentare