NATO-Beistandspflicht nur ein Mythos? Laut Memo entscheiden die USA individuell über Hilfe

NATO-Beistandspflicht nur ein Mythos? Laut Memo entscheiden die USA individuell über Hilfe
Ein Historiker kritisiert, die US-Doktrin zu dem entsprechenden Artikel im Statut des Militärbündnisses würde die NATO-Beistandspflicht quasi zu einer Absichtserklärung reduzieren.
Laut dem NATO-Pakt haben die USA das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie ihren Verbündeten in einem Kriegsfall helfen wollen oder nicht, heißt es in einem vertraulichen Memo aus Deutschland. Auch die jeweilige Form des Beistandes bestimmen sie selbst. 
 
"Im Falle eines militärischen Angriffs auf ein NATO-Land, insbesondere auf Deutschland, sind die Vereinigten Staaten nur verpflichtet, Hilfe zu leisten, wenn sie das für notwendig halten", geht aus einer vertraulichen Denkschrift hervor, die der 1955 Bundeskanzler Konrad Adenauer vorgelegt bekommen hatte. Das Schriftstück stammt aus der Zeit etwa einen Monat nach dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Allianz.

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Das Dokument mit dem Titel "Die Unterstützungsverpflichtungen der USA gegenüber der Bundesrepublik Deutschland" bemerkte, dass die Verpflichtungen der USA nicht so umfangreich sind wie ansonsten allgemein vermutet.
Sogar die Frage, ob ein Angriff [auf einen NATO-Verbündeten] durchgeführt wurde sowie Form und Umfang der Hilfe liegen im Ermessen der USA", heißt es in dem Memorandum aus dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes.
Der Generaldirektor des Zentrums für strategische Bewertungen und Prognosen (CSEF), Sergej Grinjajew, bestätigte im Gespräch mit RT Deutsch, dass die NATO-Beistandspflicht im Grunde lückenhaft ist. Er sagte:
Es gibt keine ultimativen Garantien, dass die USA Deutschland militärisch beistehen werden. Absolut nicht. Es gibt nur die Frage der Zweckmäßigkeit. Wenn die USA diese sehen, werden sie es tun, wenn nicht, dann nicht.

Alles kann, nichts muss

Der Historiker und Journalist beim "Spiegel", Klaus Wiegrefe, war jüngst auf das Dokument gestoßen. Der Historiker erklärt, dass laut dem Dokument die NATO den USA und jedem anderen Mitglied des Bündnisses im Grunde erlaubt, im Falle eines Angriffs auf andere NATO-Mitglieder nichts zu tun oder nur symbolische Akte zu setzen und damit das angegriffene Land im Stich zu lassen.

Das Dokument wurde vor mehr als einem halben Jahrhundert von einer Gruppe von Juristen und Rechtsexperten des Auswärtigen Amtes erstellt. Wiegrefe weist jedoch darauf hin, dass der Vertrag selbst seit Adenauers Zeiten nicht wesentlich geändert worden ist, so dass kein Anlass erkennbar sei, das Dokument anders als vor 60 Jahren zu interpretieren.

Der Historiker weist weiter darauf hin, dass der US-Senat ausdrücklich betonte, dass der Vertrag die Optionen der US-Führung nicht einschränkt. Nach Durchsicht des Memos stellte Adenauer fest, so Wiegrefe, dass das NATO-Statut keine automatische Beistandsverpflichtung vorsieht, da die Beistandspflicht sonst "dem US-Verfassungsrecht widersprechen würde".

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Diese Tatsachen reduzieren das NATO-Dokument auf eine einfache Absichtserklärung, meint der Historiker und fügte hinzu, dass damit auch die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel in den vergangenen Jahren in Frage gestellt werden müssten. Im Jahr 2014 sagte die Kanzlerin, die NATO hätte eine "Pflicht, jedem ihrer Mitgliedsstaaten zu helfen".

Ein Jahr später erklärte sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass die Bestimmungen des NATO-Vertrags "über die Absichtserklärungen hinausgehen". Das Auswärtige Amt sagte kürzlich dem "Spiegel", dass der Bündnisvertrag die Grundlage für "gegenseitige Sicherheitsgarantien" darstellen würde.


All diese Aussagen scheinen Wiegrefe nicht zu überzeugen. Dennoch bemerkte er, dass die Gesamtschau nicht so einfach zu sein scheint.

In Artikel 5 des Vertrags heißt es, dass jeder NATO-Mitgliedstaat die angegriffene Partei oder Parteien unterstützen werde sowie dass "die angegriffenen Vertragsparteien unverzüglich, individuell und in Absprache mit den anderen Vertragsparteien die Maßnahmen ergriffen werden, die für erforderlich gehalten werden, einschließlich des Einsatzes bewaffneter Gewalt".

Der Artikel schließt demzufolge eine Situation aus, in der ein NATO-Land im Falle eines Angriffs auf ein anderes Mitglied des Bündnisses nichts tun würde, auch wenn es der NATO frei steht, über die Art und den Umfang der gewährten Hilfe zu entscheiden.

Leonin Nersisjan, Militärkommentator der Nachrichtenagentur REGNUM und Chefredakteur der in Russland erscheinenden Zeitschrift "Neuer Verteidigungsauftrag", bemerkte, dass die NATO-Charta durchaus die Mitglieder verpflichtet, bei Angriffen auf Mitglieder der Allianz in Europa und Nordamerika Hilfe zu leisten.
Sie beschreibt jedoch nicht den Umfang der Intervention. Das heißt, theoretisch kann es eine sehr begrenzte Hilfe sein", sagte Nersisjan.
CSEF-Direktor Grinjajew fügte hinzu, dass zur Bewertung der Bedeutung des Artikels 5 des NATO-Vertrages ein Blick in die Geschichte notwendig ist. Er erläuterte:
Der historische Rückblick zeigt, dass Artikel 5 des NATO-Vertrags über kollektive Sicherheit bisher nur einmal griff. Das war am 11. September 2001 zum Schutz der Vereinigten Staaten. Kein einziges anderes NATO-Land wurde bis heute im Rahmen des NATO-Artikels von den USA verteidigt. Dabei hätten die türkischen Spannungen mit Russland 2015 und der Appell Ankaras nach dem vereitelten Staatsstreich 2016 interessante Beispiele dafür erkennen lassen, wo die Beistandspflicht offenbar an Grenzen stößt.

Artikel 6 definiert Angriffshandlungen

In Artikel 6 des Vertrags wird ein Angriff auf einen NATO-Mitgliedsstaat auch als "bewaffneter Angriff auf das Territorium" oder "auf die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge" eines der Vertragsparteien definiert. Das Abkommen definiert die Fälle, in denen NATO-Mitgliedsstaaten ihren Verbündeten helfen sollten. Anders als Wiegrefe interpretiert, könnte das ein Hinweis dafür sein, dass NATO-Mitgliedsstaaten letztendlich doch nicht so viele Freiheiten haben, über die Art der Erfüllung ihrer Beistandspflicht nachzudenken.

Während des Wahlkampfes von US-Präsident Donald Trump lösten dessen Aussagen Panik unter NATO-Staaten über deren Verteidigungsfähigkeit ohne die US-Armee aus. Trump bezeichnete die NATO während seines Wahlkampfs immer wieder als "veraltet" und sprach von der Notwendigkeit, die "veraltete Mission und Struktur des 68-jährigen Bündnisses zu aktualisieren".

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Im Juli 2016 betonte Trump, dass die USA die NATO "weit mehr unterstützen als wir sollten" und fügte hinzu, dass "viele Länder nicht das tun, was sie tun sollten".

Er versprach, dass sich die USA, wenn er gewählt wird, nicht mehr streng an die NATO-Bestimmungen von Artikel 5 halten werden. Man werde demnach nicht jede mögliche verbündete Nation militärisch verteidigen, besonders nicht in dem Falle, dass diese nicht ihren gerechten Anteil zahle.

Mit seinem Amtsantritt zog Trump seine Äußerungen schnell wieder zurück. Gleichzeitig bleibt aber auch die Frage der Lastenteilung im Verteidigungsbereich für den US-Präsidenten nach wie vor ein heißes Thema. Bei seinem ersten NATO-Gipfel im Mai kritisierte Trump öffentlich die meisten NATO-Mitglieder und sagte, sie müssten endlich ihren gerechten Beitrag leisten und ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen.

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