Feuer mit Feuer bekämpfen: Populist Muharrem Ince will Erdogan herausfordern

Feuer mit Feuer bekämpfen: Populist Muharrem Ince will Erdogan herausfordern
Als Herausforderer von Parteichef Kilicdaroglu war der wortgewaltige Kemalist Muharrem Ince mehrfach gescheitert. Dennoch traut ihm die größte türkische Oppositionspartei CHP zu, Präsident Erdogan vor allem im nationalistischen Lager Stimmen abzujagen. 
 
Lange galt er als traditionalistischer Quertreiber, der mehrfach beim Versuch, den seit 2010 amtierenden Parteivorsitzenden Kemal Kilicdaroglu vom Thron zu stoßen, den Kürzeren zog. Jetzt soll der 54-jährige Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) für Yalova, Muharrem Ince, ausgerechnet den hoch favorisierten Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan herausfordern, der die für 2019 geplanten Präsidentschaftswahlen auf den 24. Juni 2018 vorgezogen hatte. Am gleichen Tag werden auch die vorverlegten Parlamentswahlen stattfinden.
Mit der Erlaubnis Gottes und dem Willen der Nation werde ich am 24. Juni zum Präsidenten gewählt", versprach Ince AFP zufolge seinen Anhängern und kündigte an, ein "unparteiischer Präsident" für alle 80 Millionen Bürger der Türkei sein zu wollen.
Mehr erfahren -  Türkei: Erdogan kündigt vorgezogene Wahlen für Juni an
Im Fall seiner Wahl ins oberste Staatsamt wolle der frühere Physiklehrer und Schuldirektor unter anderem den kontrovers diskutierten Präsidentenpalast, den Erdoğan von 2011 bis 2014 für 491 Millionen Euro errichten ließ, räumen und in ein "Haus der Wissenschaft" umwandeln. Er selbst wolle stattdessen wieder im Cankaya-Palast residieren, der zuvor als Amtssitz türkischer Präsidenten genutzt wurde.

Erdogan gilt trotz Bündnis mit MHP nicht mehr als unbesiegbar


Welche Auswirkungen die Kandidatur Inces auf die Mehrheitsverhältnisse haben wird, ist bislang völlig unklar. Lange Zeit galt Amtsinhaber Erdogan gleichsam als unbesiegbar, und die Erfolge beim Vormarsch der türkischen Armee und ihrer Verbündeten in den zuvor kurdisch kontrollierten Gebieten Nordsyriens schienen ihm ebenso eine klare Mehrheit zu sichern wie das Bündnis mit der nationalistischen MHP und der Überraschungseffekt der vorverlegten Wahlen.

Gleichzeitig galt der seit 2010 amtierende CHP-Chef Kilicdaroglu als Bürde für die Opposition, da er bislang so gut wie jede überregionale Wahl gegen Erdogan und seine regierende AKP deutlich verlor und als Garant für den weiteren Weg der traditionsreichen Atatürk-Partei in die permanente Bedeutungslosigkeit angesehen wurde.

Andererseits hat eine Reihe von Faktoren über die Jahre hinweg auch Kratzer an der Popularität Erdogans hinterlassen. Von der unter Druck geratenen Wirtschaft inklusive Verschlechterung des Kreditratings über Korruptionsvorwürfe oder die weitreichenden Säuberungen im Staatsapparat bis hin zum immer stärkeren Einfluss religiös-konservativer Elemente auf die Regierungspolitik hat sich unterschwellig die Unzufriedenheit mit der AKP gesteigert und die Frage nach einer möglichen Alternative wurde präsenter.

Lesen Sie auch -  Ehemalige türkische Ministerin fordert Erdogan mit neuer Partei heraus

Bislang galt Aksener als chancenreichste Gegenkandidatin

Das nur noch sehr knappe Ergebnis zu Gunsten Erdogans beim Verfassungsreferendum 2017 war für diesen ein Schuss vor den Bug, zumal er sich die Mehrheit dafür nur noch mithilfe der Unterstützung durch die MHP sichern konnte. Diese drohte im Gegenzug in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, nachdem sich ein Erdogan-kritischer Flügel rund um die frühere Innenministerin Meral Aksener abgespalten hatte.

Aksener wiederum, die ihre eigene Partei, die "Gute Partei" (IYI), gründete, galt bis dato als die aussichtsreichste mögliche Gegenkandidatin, die in einer Stichwahl Erdogan gefährlich werden könnte. Umfragen rechneten ihr größere Chancen aus als Kilicdaroglu oder der frühere konservative Staatspräsident Abdullah Gül sie in einem solchen Zweierduell gehabt hätte - insbesondere Gül hätte ähnlich wie 2014 der gemeinsame Oppositionskandidat Ekmeleddin Ihsanoglu linke und nationalistisch gesinnte Kemalisten in Massen verprellt.

Dieses Manko wird Muharrem Ince definitiv nicht aufweisen. Er gilt als Aushängeschild traditioneller Kemalisten - sowohl jener mit eher sozialdemokratischer als auch jener mit stark nationalistischer Prägung -, ohne jedoch für das fromme islamische Publikum von vornherein als unwählbar zu erscheinen. Auch stilistisch hat er mit Erdogan selbst mehr gemein als mit Kilicdaroglu: Ince gilt als hemdsärmeliger, oft polternder Populist, der angriffslustig agiert und rhetorisch gegenüber seinem Parteichef eindeutig im Vorteil ist.

Kilicdaroglu tritt mit Ince-Nominierung Flucht nach vorne an

Das Zeichen der von der DITIB betriebenen Koca Sinan Moschee, Berlin, Deutschland, 11. März 2018.

Inwieweit es Erdogan gelingen wird, die beiden kemalistischen Kandidaten, den eher linken Ince und die rechtsnationale Aksener, gegeneinander auszuspielen, wird sich zeigen und über den Ausgang beider Urnengänge entscheiden. Für die Parlamentswahl schlossen die größeren Oppositionsparteien CHP und IYI mit der Demokratischen Partei und der islamistischen Saadet Partei ein Wahlbündnis.
Die AKP liegt trotz der Unterstützung durch die MHP in mehreren Umfragen nur noch knapp über der 40-Prozent-Marke. Ungewiss ist auch, ob es der prokurdischen HDP, die als separatismusverdächtig gilt und deshalb für eine Regierungsbildung ausscheidet, noch einmal gelingen wird, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden.

Mehr zum Thema -  "Marsch der Gerechtigkeit": Zehntausende versammelten sich in der Türkei zu Abschlusskundgebung 

Sollte Ince scheitern, hätte Kilicdaroglu sich innerparteilich ihm gegenüber einen deutlichen Vorteil verschafft. Da der CHP-Präsidentschaftskandidat nicht gleichzeitig für den Wahlkreis kandidieren kann, würde er auch als möglicher Gegenspieler innerhalb der Parlamentsfraktion ausfallen. Zudem wäre er als Verlierer auch innerparteilich gebrandmarkt und hätte so wohl kaum noch Chancen, dem amtierenden Parteichef gefährlich zu werden oder dessen Kurs infrage zu stellen.

Obwohl Abdullah Gül allen Umfragen zufolge in einer Stichwahl gegen Erdogan deutlich im Hintertreffen gewesen wäre, könnten die Umstände seines Kandidaturverzichts noch einmal für Diskussionen im Wahlkampf sorgen. Wie die Wiener Zeitung berichtete, soll Erdogan selbst diesen unter Druck gesetzt haben, nicht zu kandidieren. Generalstabschef Hulusi Akar und Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin sollen in diesem Zusammenhang vergangene Woche im Helikopter in Güls Garten in Istanbul gelandet sein und ihn vor Ort persönlich davon "überzeugt" haben, von einem Antritt Abstand zu nehmen. Kilicdaroglu sprach in diesem Zusammenhang von einer "Intervention des Militärs" und einem Versuch, die "Demokratie zu beenden".

Kommentare